Mir scheint, ich habe das Herzstück meines Blogs, Den Musikfilm in letzter Zeit ein wenig vernachlässigt. Aber keine Bange, demnächst stehen noch wirklich sehenswerte Veröffentlichungen an, die auf diesen Seiten auch besprochen werden. Zunächst aber habe ich einen schrägen „Klassiker“ aus dem hut gezaubert: Mit der außergewöhnlichen Musiker-Biographie „Tschaikowsky“ drehte der „Tommy“-Regisseur Ken Russel 1970 einen extrem kontroversen Film, der bei der amerikanischen Kritik durchfiel.
Der russische Komponist Pjotre Iljitch Tschaikowski (Richard Chamberlain) führt Anfang der 1870er Jahre ein ausschweifendes Leben in Moskau. [Kurzer Exkurs zur Schreibweise: Pjotre Tschaikowski ist diejenige, die im deutschsprachigen Raum am gebräuchlichsten ist, und wird daher hier verwendet, sofern es sich nicht um den Filmtitel handelt.] Er hat einen Lehrauftrag am Konservatorium, das von Nikolai Rubinstein (Max Adrian) geleitet wird, das sein Auskommen sichert. Er lebt im Haus Rubinsteins und versucht, sich als Komponist zu etablieren. Doch es bedarf eines Zufalls, dass er in der reichen Witwe Nadeschda von Meck (Isabelle Telezynska) eine Mäzenin findet, weil sein erstes Klavierkonzert sie berauschte.
Gleichzeitig hat Tschaikowski mit seiner versteckten Homosexualität zu kämpfen und durch die Heirat mit Antonina Miljukowa (Glenda Jackson) versucht er ein „normales“ leben zu führen. Doch der Konflikt ist unabwendbar: Während seine Frau von starker körperlicher Begierde getrieben, sich körperlich immer stärker verzehrt, kann Tschaikowski seine homosexuelle Neigung nicht ablegen. Die Ehe ist eine Katastrophe und stürzt den Komponisten in eine schwere Schaffenskrise, deren Dauer auch die Geduld und das Wohlwollen seiner Mäzenin strapaziert.
In gewisser Weise ist Ken Russels „Tschaikowsky – Genie und Wahnsinn“ (OT: „The Music Lovers“, 1970) ein Film seiner Zeit, der stark von sexueller Thematik geprägt ist und mit expressiven und experimentellen Bildern das persönliche Drama, den inneren Konflikt des Komponisten einzufangen versucht. Dabei basiert das Drehbuch auf einer von Catherine Drinker Bowen zusammengestellten Sammlung des Briefwechsels zwischen Tschaikowski und Gräfin de Meck. Doch Russel stellt freimütig Zusammenhänge zwischen dem Leben des Komponisten und seiner Musik her. Und für diese „künstlerische Freiheit“ im Biopic gab es von Kritikern gehörig schelte, aber dazu später mehr.
Prägend für „The Music Lovers“ sind die langen dialogfreien Phasen einer bilderstürmerischen Vermischung von Realität, Traum und Wahnvorstellung während dazu Tschaikowskis Musik gespielt wird. Das wirkt beinahe wie ein langes Musikvideo. Russel setzt bei der Inszenierung auf viel Dekor und Pomp und seine Darsteller sind eher Getriebene als handelnde Personen, denen es letztlich nicht gelingt aus ihrem Drama auszubrechen. Das muss zwangsläufig in die Katastrophe führen.
Die biografische Interpretation von Kunstwerken ist durchaus legitim, muss sich aber immer der Kritik stellen, eine verkürzte Sichtweise zu sein. Russel macht in seiner Komponisten-Biografie keinen Hehl daraus, dass die Kompositionen Tschaikowskis ausschließlich dessen persönliches Leiden und Sehnen wiederspiegeln, nicht umsonst werden die traumatischen Sequenzen von idyllischen Kindheitsmomenten, der liebe zur Schwester, dem Tod der Mutter, dem Verlust des Liebhabers und der Plage der Ehe so eindeutig in einen musikalischen Zusammenhang gestellt. Das ist durchaus streitbar und sehr eigenwillig.
Allerdings geht Russel auch zweifelhaft mit dem Fakten um, egal, ob Tschaikowski seien Mäzenin jemals getroffen hat, im Film begegnen sie sich, auch die Einweisung seiner Frau in eine Irrenanstalt, wie man das früher so nannte, wird so vorverlegt, dass sie zu Tschaikowskis Lebzeiten geschah. Die Umstände des plötzlichen Todes des Komponisten sind ebenso ungeklärt wie spektakulär: Offiziell starb Tschaikowski an Cholera, die er sich mit infiziertem Trinkwasser zugezogen haben soll. Es gibt allerdings auch die These, er habe sich mit Arsen selbst umgebracht. Russel entscheidet sich für beides und beschert Tschaikowski so einen melodramatischen Abgang, passend zum Rest des Films.
Im Gesamtwerk des britischen Regisseurs der 2011 verstarb, ist „The Music Lovers“ kein herausragender Film, sondern markiert nach einer TV-Doku über Elgar seine zweite Beschäftigung mit einem Komponisten, einige Jahre Später folgen dann Spielfilme über Mahler und List; und selbstredend die Rockoper „Tommy“ . Nach seinem Kinodurchbruch mit „Women in Love“ (1969) über dem Kampf der Geschlechter im Großbritannien der 1920er bleibt er auch weiterhin der Thematik Sexualität auf der Spur. In Deutschland war „Tschaikowsky“ 1971 in den Kinos zu sehen und wurde 2012 als DVD-Premiere veröffentlicht.
Für die junge Glenda Jackson bedeutet ihre Rolle in „Women in Love“ einen Oscar und den großen Durchbruch als Kinoschauspielerin. Wie auch Richard Chamberlain („Dornenvögel“, „Die drei Musketiere“) war Glenda Jackson zuvor schon eine gefragte und gefeierte TV-Darstellerin gewesen. „Tschaikowski – Genie und Wahnsinn“ ist ein weiterer Schritt der beiden Darsteller zu einer großen Karriere und Weltruhm.
Ken Russels „Tschaikowsky – Genie und Wahnsinn“ ist filmisch eine Herausforderung, die nicht immer lohnenswert und beizeiten hochgradig ermüdend ist, aber andererseits auch extrem intensive Momente urgewaltig expressionistischer Filmkunst beinhaltet und damit die bildliche Entsprechung von Tschaikowskis Musik versucht. Neben der großartigen Musik und einer vergleichsweise frühen filmischen Auseinandersetzung mit der Homosexualität, zumindest im Mainstream-Kino, sind das gute Gründe, sich mit diesem kontroversen Film zu beschäftigen. Eine Wertung scheint mir hier nicht angemessen.
Film-Wertung: (6 / 10)
Tschaikowsky – Genie und Wahnsinn
OT: The Music Lovers
Genre: Biographie, Melodram, Musikfilm
Länge: 123 Minuten, USA, 1970
Regie: Ken Russel
Darsteller: Richard Chamberlain, Glenda Jackson,
FSK: ab 16 Jahren
Vertrieb: Alive
Kinostart: 26.02.1971
DVD-VÖ: 17.02.2012