Oops, they did it again!

0983_01_SU_Lanchester.inWährend der Hintergrundrecherchen für seinen Roman “Kapital” (erschienen 2012) hat sich der britische Autor John Lanchester eingehend mit dem Finanzsystem beschäftigt und daraus nun ein höchst unterhaltsames und auch ziemlich lehrreiches Buch gemacht, in dem er die Geschichte des kapitalistischen Finanzsystems für den Normalsterblichen erstaunlich verständlich aufbereitet und analysiert wie es zu dem drastischen Zusammenbruch eben dieses Systems kommen konnte. Der sperrige Endlostitel „Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt“ – Die bizarre Geschichte der Finanzen“ bringt es dabei auf den Punkt.

John Lanchester ist ein angesehener Autor und Journalist, der bislang vier Roman veröffentlicht hat. „Kapital“ (auf Deutsch erschienen bei Klett-Cotta 2012) wurde hochgelobt und beschreibt kurz gesagt die Auswirkungen der Finanzkrise auf verschiedene fiktive Bewohner einer Londoner Straße. Nun hat sich Lanchester die Geschichte des Finanzsystems vorgenommen und es gelingt ihm tatsächlich Grundbegriffe der Finanzwirtschaft so darzustellen, dass man zumindest beim Lesen auch versteht, worum es geht. Zwar schwirrt dem Laien der Kopf angesichts von Leverage Ratio, CDO, CDS und anderen kryptischen Begriffen, aber selten war ein Buch über das Finanzsystem so unterhaltsam wie „Whoops! Why Everybody Owes Everyone and No One Can Pay“ (So der Originaltitel).

Der Autor hält sich nicht lange mit Vorgeplänkel auf und nach einem kurzen und knackigen Einstieg in die lange Geschichte  der Finanzwelt geht es auch gleich in die unmittelbare Vergangenheit mit ihren desaströsen Krisen. Zum Beginn allen finanzwirtschaftlichen Übels: Der „Erfindung“ neuer Finanzprodukte in den 1980er Jahren, die es – flapsig ausgedrückt –  erlaubten,  Schulden weiterzuverkaufen. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus schien es und scheint es bis heute keine Alternative zum kapitalistischen System zu geben, woraus Banker und Wirtschaftsbosse quasi einen Freifahrtschein für ungebremste Marktliberalisierung ableiteten. Darin, so Lanchester, liegen die Ursachen dafür, dass ungeahnte Krisen von astronomischem Ausmaß die Finanzwelt erschütterten. Die Dot.Com-Blase auf den Aktienmärten im Jahr 2000 wurde erstaunlicherweise von kaum einem Experten wirklich prognostiziert. Doch ebenso erstaunlicherweise scheint man daraus in der Bankenwelt nichts gelernt zu haben, was dann in der Finanzkrise 2008 zum Ausdruck kam. Im Grunde sind alle folgenden Finanzkrisen noch immer Ausdruck dieser katastrophalen Verwerfungen im Finanzsystem. Und die Folgen sind weder absehbar noch berechenbar.

Für diese Situation macht Lanchester zwei Aspekte verantwortlich, zum einen das gestörte Verhältnis der Finanzwelt zum Risiko und zum anderen das komplette Versagen von Aufsichtsbehörden. Und der Autor hat gute Argumente im Gepäck, wenn es darum geht, den Wahnwitz auf den Punkt zu bringen, mit dem sich Banker und Finanzexperten dem Geld nähern. Der Begriff Realitätsverlust spukt dem Leser des öfteren durch den Kopf. Angesichts solcher Verblendung bleibt John Lanchester allerdings erstaunlich humorvoll. Eine der großen Qualitäten seines Sachbuches ist, dass es unterhaltsam zu lesen ist. Immer wieder bringt der Autor Vergleiche aus der Unterhaltungsbranche oder dem alltäglichen Leben, um zu verdeutlichen, was da in der Finanzwelt geschieht. Das mag gelegentlich plakativ sein, falsch wird es dadurch nicht.

Selbstredend betrachtet Lanchester vornehmlich das anglo-amerikanische Finanzwesen und den entsprechenden Wirtschaftsraum, aber diese haben auch immer noch eine Vormachtstellung in der Weltwirtschaft inne. In einer globalisierten Wirtschafts- und Finanzwelt sind die Auswirkungen auch außerhalb dieses Betrachtungsbereiches spürbar und nachhaltig. So ist auch die momentane Eurokrise eng damit verbunden, wie das internationale Finanzgebaren sich äußert. Und am Ende seiner Ausführungen geht John Lanchester auch auf diese aktuelle Krise ein. Für den Leser erscheint  am Ende der Lektüre es absolut stimmig, dass der bekennende Euroskeptiker den einzigen Ausweg aus der Krise in Euro-Anleihen, sogenannten Eurobonds sieht. Und Lanchester lässt auch keinen Zweifel daran, dass Deutschland wohl oder übel die Hauptlast an dieser Eurokrise wird tragen müssen. Fraglich bleibt, ob man dazu gewillt ist und die entsprechende demokratische Rückendeckung in der Bevölkerung hat.

Fazit: Mit „Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt“ ist John Lanchester ein grandioses Buch über unser Finanzsystem gelungen. Mit flotter Schreibe, viel Einblick und nachdenklich stimmenden Analysen weiß „die bizarre Geschichte der Finanzen“ absolut zu überzeugen, ohne vom Leser allzu viel wirtschaftswissenschaftliches Vorwissen zu erwarten. Ein im besten Sinne populärwissenschaftliches Werk, das dem Leser nachdrücklich vor Augen führt, dass auch die Experten meistens keine Ahnung haben, was sie da machen. Die Realität in der Finanzwelt untermauert Lanchesters Ansicht frustrierender Weise eindrucksvoll.

Buch-Wertung: 9 out of 10 stars (9 / 10)

0983_01_SU_Lanchester.John Lanchester: Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner ­jemals etwas zurückzahlt
Die bizarre Geschichte der Finanzen
OT: I.O.U. Why Everyone Owes Everyone and No One Can Pay (alt: Whoops! Why…)
Übersetzung: Dorothee Merkel
ISBN: 978-3-608-94747-2
Verlag: Klett-Cotta, 302 Seiten, Klappenbroschur
VÖ: 14.03.2013