Brüsel – von Schuiten und Peeters

Brüsel-Cover-vorschauFür seine Arbeiten ist das belgische Comic-Team Francois Schuiten (Zeichungen) und Benoit Peeters (Szenario) mehrfach ausgezeichnet worden und der von ihnen geschaffenen Kosmos „Die geheimnisvollen Städte“ gehört zu den Klassikern des Genres. Seit 1983 erwecken Schuiten und Peeters fantastische, städtische Szenarien in einer Parallelwelt zum Leben, die unserer erstaunlich ähnelt und doch so verschieden ist. Mit der Neuauflage des 1992 (hierzulande 1995) erschienenen Albums „Brüsel“ ist nun ein Schlüsselband des Zyklus und ein Meilenstein des literarischen Comics endlich wieder erhältlich.

In der modernen Metropole Brüsel, die einige Verwandtschaft mit der bekannten belgischen Hauptstadt Brüssel aufweist, sind nach Beginn des 20. Jahrhunderts große stadtplanerische Umbrüche im Gange. Angetrieben vom uneingeschränkten Fortschrittsglauben lässt der Stadtrat auf Geheiß seines Planungsstabs ganze Stadtteile abreißen und mit modernen Hochhäusern neu entstehen. Zu den voranstürmenden Fortschrittsfreunden gehören auch der Arzt Doktor Dersenval und der Baumogul und Unternehmer DeVrouw.

Plastik ist chick

Der Blumenhändler Constantin Abeels gerät eher zufällig in die Mühlen der Verwaltung. Als er nachfragen will, warum in seinem Geschäft weder Telefon noch Wasser funktionieren? In den Wirren des bürokratischen Apparates lernt er die Telefonistin Tina kennen. Doch Abeels kommt aus den Fängen des Fortschrittsmolochs nicht mehr hinaus. Eine Erkrankung bringt ihn in den zweifelhaften Genuss, einer der ersten Patienten in der neuen hochmodernen Klinik des Doktor Dersenval zu sein. Während sich in der Stadt Widerstand gegen die großflächigen Abrisse regt, bahnt sich eine Katastrophe an.

Brüsel 1Schon im Vorwort zu „Brüsel“ geht Autor Benoit Peeters auf die Ähnlichkeiten des fiktiven Brüsel mit der belgischen Hauptstadt ein. Die Geschichte und vor allem das Szenario sind ganz eindeutig von  großen städtischen Baumaßnahmen geprägt. Jenen Maßnahmen, die Brüssel seit Mitte des 19. Jahrhunderts sein modernes Äußeres gegeben haben. Aus ihrem kritischen Ansatz machen die beiden Autoren des geheimnisvollen „Brüsel“ keinen Hehl. Die städtischen Szenarien und Details des architekturbegeisterte Zeichners Francois Schuiten sind von gradlinigem Modernismus geprägt. Dessen monumentale Gebäude und Entwürfe widerspiegeln hier auch die inhaltliche Verlorenheit der Figuren. Sinnbildhafter als in der Szene, als der Bürgermeister und Konsorten wie Götter durch ein riesenhaftes Modell der neuen Stadt schreiten und in Phantastereien schwelgen, kann man Stadtplanung nicht kritisieren.

Elektrizität ist Gesundheit

Selbstverständlich kommen in der Parallelwelt der geheimnisvollen Städte auch fantastische Motive zum Tragen: der Zeppelin als Sinnbild fortschrittlicher Fortbewegung, medizinische Behandlungen mit Radioaktivität und Elektrizität gehören zu den Dogmen der neuen Zeit. Die Maschinenstürmer wollen von Tradition nichts mehr wissen.

brüsel 2Auch Blumenhändler Abeels, selbst dem Fortschritt zugeneigt, muss erkennen, dass in der modernen Welt für den Menschen kaum Platz bleibt. Er beginnt seine Haltung zu überdenken. Das kafkaeske Ausgeliefertsein, mit dem er zum hilflosen Spielball wird, ist symptomatisch. Abeels Geschichte ist die eines Getriebenen, der ohne eigenes Verschulden plötzlich vor den Ruinen seiner Existenz steht und versucht, wieder Orientierung zu finden. Als Nebenhandlung sind die Liebesgeschichte mit der Telefonistin und auch der kurz in den Blick gerückte Widerstand zwar nicht sonderlich ausgereift, bereichern die Erzählung aber um einige Auflockerung aus der eher klaustrophobischen Umklammerung.

Von ungeheurer Kunst und Kraft sind jedoch die Zeichnungen des Francois Schuiten. Es versteht sich fast von selbst, dass gerade die filigranen und ausgeklügelten städtischen Szenarien überzeugen. Doch auch die in klassischer belgischer Comic-Tradition gehaltene Erzählstruktur ist stimmig und fesselnd. Das Panneling ist eher traditionell gehalten und lässt in dem großen Format genug Raum für die wunderbaren Bildkompositionen.

Und wieder ein Sieg über den Tod

Das Szenario ist vom Modernismus geprägt und man erkennt in den klaren Fassaden der Wolkenkratzer und den schlichten Innenräumen die Anlehnung an Neue Sachlichkeit, Art Deco und Bauhaus, die in der für Brüssel prägenden Zeit nach der Wende zum 20. Jahrhundert ihre Spuren hinterlassen haben. Ein Augenschmaus für sich sind die in schwarz-weiß gehaltenen Kapitel-Deckblätter, die bewusst den sozialistischem Realismus zitieren und den Aufbruch in die neue Zeit wirkungsvoll parodieren.

„Brüsel“ von Schuiten und Peeters ist ein großartiges Album, dem es mit erstaunlicher Leichtigkeit gelingt, Kunst und Comic zu verbinden. „Die geheimnisvollen Städte“ schaffen es in diesem Schlüsselband, das Augenmerk gekonnt und höchst kunstvoll auf Architektur und Stadtplanung zu richten, ohne dass dieser Diskurs im leeren Raum stattfinden würde. Die Geschichte macht Architektur lebendig und erzählt nicht nur eine stimmige Geschichte, sondern zeigt wie wichtig die ständige Auseinandersetzung mit dem Lebensraum Stadt ist. „Brüsel“ ist allerdings nicht nur für Architekten empfehlenswert. Ein Meilenstein des graphischen Erzählens!

Comic-Wertung: 9 out of 10 stars (9 / 10)

Brüsel-CoverSchuiten & Peeters: Brüsel
OT: Brüsel, 1992
Genre: Comic, Architektur,
Zeichnungen: Francois Schuiten
Autor: Benoit Peeters
ISBN: 978-3941239791
Verlag: Schreiber & Leser, Broschiert, 125 Seiten
VÖ: Januar 2012
(Vom Hersteller empfohlenes Alter: ab 14 Jahren)

weiterführende Links:

Brüsel bei Schreiber & Leser mit Leseprobe

Homepage der „Geheimnisvollen Städte“ (etwas veraltet)

Die geheinmisvollen Stadte bei Wikipedia

weitere Bände der „Geheimnisvollen Städte“:

Der Turm

der-turm