Auch wenn der Zeichner und Autor Art Spiegelman der Meinung ist, dass“ Gedenkfeiern der sicherste Weg sind, ein Ereignis zu vergessen“, hat der 10. Jahrestag des Anschlags auf das World Trade Center zumindest dafür gesorgt, dass seine grandiose Aufarbeitung „Im Schatten keiner Türme“ nun endlich auch in Deutschland erschienen ist. Die Serie von Comic-Seiten erschien ursprünglich als Zeitungsbeilagen, unter anderem in der ZEIT, bevor Spiegelmann daraus 2004 ein Album machte und damit einen der wichtigsten literarischen Beiträge überhaupt zu dem Anschlag und seinen verheerenden Auswirkung bündelte.
Schon vor „Im Schatten keiner Türme“ zählte der amerikanische Art Spiegelman zu den weltweit einflussreichsten Comic-Zeichnern und Cartoonisten. Spätestens seit seinem autobiographischen Comic „Maus“, das sich mit dem Holocaust-Schicksal seiner Eltern befasst, sorgte Spiegelman auch außerhalb der internationalen Comic-Szene für Aufsehen. Auch als Cover-Illustrator für den New Yorker machte sich der Zeichner einen Namen als politischer Cartoonist und sorgte mit seinen Illustrationen mehrfach für Aufregung.
Das 2004 in den USA erschienene und nun auf Deutsch vorliegende „Im Schatten keiner Türme“ umfasst neben dem beeindruckenden schwarz auf schwarz gedrucktem Cover, das einst schon den New Yorker zierte, eine Serie von 10 großformatigen Seiten, die sich mit dem 11. September 2001 und den Folgen beschäftigen. Darüber hinaus sind in einem zweiten Teil liebevoll zusammengestellte historische Zeitungsillustrationen und Comicbeilagen gesammelt, die Spiegelman beeinflusst haben. Beide Teile des Werkes sind mit einem einleitenden Text versehen. Insgesamt umfasst das großformatige Album 18 doppelseitige illustrierte Tafel auf dicker Pappe.
Es sind mehrere Faktoren, die „Im Schatten keiner Türme“ so außergewöhnlich und eindringlich machen. Und obwohl es inzwischen längst keine Vorbehalte gegen die literarische Spielart Comic oder Graphic Novel gibt, ist es noch immer ungewöhnlich – für einen Comic-Zeichner freilich naheliegend – sich außerhalb von politischen Cartoons mit dem Zeitgeschehen zu befassen. Dem Leser erlaubt diese Erzählform einen ganz anderen Zugang, der sich von der eher linearen Erzählweise der Literatur grundlegend unterscheidet und ganz andere Arten von gedanklichen Verknüpfungen ermöglicht. Es scheint fast so, als mache der Comic das Geschehen leichter fassbar. Was allerdings nur solange stimmen mag, wie der Leser noch nicht in dem Horror-Szenario gefangen ist.
Art Spiegelman war schon immer jemand, der auch politisch Stellung bezogen hat, was häufig und auch in diesem Fall zur Folge hatte, dass die Reaktionen in der Heimat und im Ausland durchaus unterschiedlich ausfielen. In den USA reagierten die Medien eher verhalten auf „Die Schatten keiner Türme“ während alle renommierten europäischen Zeitungen tief beeindruckt waren. Spiegelman sagt von sich selbst, dass er ein langsamer Arbeiter ist, sein Ansatz ist ein literarischer und es dauert seine Zeit bis das Thema seinen Weg findet. So verwundert es kaum, dass Amerikas Medien schon längst mit dem Thema 9/11 durch waren, bevor „Im Schatten keiner Türme“ veröffentlichungsreif war.
Stilistisch hält sich Art Spiegelman an die historischen Vorbilder großformatiger Zeitungsbeilagen, ohne sich allerdings zeichnerisch irgendwie zu beschränken, und lässt seinen kreativen Eingebungen freien Lauf. So werden die einzelnen Seiten zu in sich abgeschlossenen Kunstwerken.
„Im Schatten keiner Türme“ ist wie fast alle von Art Spiegelmans Arbeiten persönlich und schließt die Erlebnisse des Autors mit ein. In diesem speziellen Fall ist der New Yorker Künstler mitsamt seiner Familie direkt betroffen und bearbeitet hier sein ganz persönliches Trauma. Gerade dadurch wird der Schrecken intensiver und für andere nachvollziehbar. Keine Abstraktion, sondern direktes Erleben und Verarbeiten. Und der Künstler setzt sich ebenso intensiv mit der Reaktion, beziehungsweise deren Ausbleiben, seiner Landsleute auseinander und beschreibt eine Gesellschaft, die paralysiert und hilflos ist und auch für lange Jahre bleibt, die einerseits mit blindem Aktionismus reagiert und andererseits alles tut, um so schnell wie möglich zu vergessen. Dass sich Spiegelman damit in den USA nicht nur Freunde machte, versteht sich. Der Autor hat schnell festgestellt, dass es einen grundlegenden Unterschied macht, ob man den Einsturz des World Trade Centers als New Yorker erlebt hat, oder irgendwo außerhalb der Stadt., „dass, verglichen mit den anderen, für die der Angriff nur eine Abstraktion war, alle New Yorker durchgeknallt sind“.
Fazit: „Im Schatten keiner Türme“ ist ein fortlaufender literarischer Zustandsbericht einer gesellschaftlichen Verwerfung. Darin liegt die immense literarische Leistung des Albums, das nicht im herkömmlichen Sinne als Graphic Novel gelten kann. Neben Don DeLillos „Falling Man“, dass auch erst 2007 erschien, ist „Im Schatten keiner Türme“ eine der wichtigsten literarischen Aufarbeitungen des Phänomens 9/11. Und Art Spiegelman bleibt einer der wichtigsten Zeichner und Autoren unserer Tage.
Comic-Wertung: (9 / 10)
Art Spiegelman: Im Schatten keiner Türme
OT: In the Shadow of no Towers
Genre: Comic, Graphic Novel; USA 2004
Übersetzung: Christine Brinck, Jürgen von Rutenberg
Format: Pappe, 25.3 x 36.7 cm, 42 Seiten
ISBN: 978-3-85535-710-9
Verlag: Atrium Verlag
VÖ: 5. September 2011
Weiterführende Links
Album auf der Atrium-Homepage
Deutscher und englischer Wikipedia-Eintrag zu Art Spiegelman