Taufrisch ist John Burnsides „Glister“ nicht mehr und doch ist der 2009 auf Deutsch erschienene Roman hierzulande das aktuellste Werk des sprachmächtigen Schotten. „Glister“ ist ein verstörendes Buch: Was als Thriller daherkommt, entpuppt sich als düstere Vision einer Jugend in feindlicher und kalter Umgebung und erweckt das Schöne im Hässlichen.
In einer Kleinstadt verschwinden Jugendliche und niemand wundert sich oder nimmt daran Anstoß. Es heißt allgemein, die Jugendlichen seien einfach ausgerissen. Doch als Liam verschwindet, glaubt Leonard nicht mehr daran, dass auch sein Freund einfach abgehauen sei, und macht sich auf die Suche.
„Wo ich jetzt bin, kann ich noch die Möwen hören.“
Die Halbinsel um die namenlose Kleinstadt, eine Vorhölle aus abgewrackter Arbeitersiedlung und verseuchter Industriebrache, wird beherrscht von der Ruine einer aufgegebenen Chemiefabrik. Das vergiftete Gelände darum herum ist zugleich Tummelplatz absonderlicher Kreaturen und verbotener Abenteuerspielplatz der heranwachsenden Kids, deren einzige vergebliche Hoffnung es ist, irgendwann von hier fort zu kommen.
Leonard ist ein Sonderling, ein Einzelgänger, doch der Fünfzehnjährige muss sich bei der Suche nicht nur mit gleichgültigen Erwachsenen und einem rückgratlosen Polizisten herumschlagen, sondern auch mit einer renitenten Jugendgang. Ablenkung und Trost erfährt der Junge in Büchern und durch die Freundschaft zu einem Insektenforscher, der in unregelmäßigen Abständen in der Gegend Untersuchungen durchführt.
„Niemand geht von hier fort“
Die eigentliche Magie von „Glister“ liegt in der Sprache selbst. Der Romans schafft es, eine hoffnungslose, lethargische Gesellschaft mit Leonards ganz eigener Lebendigkeit zu kontrastieren. Das Thriller-Szenario tritt bald hinter Leonards Erleben seiner vergangenen Kindheit zurück. Gleich zu Beginn stellt sich die Frage, was oder wo der „Glister“ überhaupt ist, von dem aus Leonard seine Geschichte erzählt. Aber das mag jeder selbst herausfinden.
John Burnside gilt als einer der wichtigsten schottischen Gegenwartsautoren. „Glister“ ist sein siebter Roman und man spürt den Dichter hinter jedem Satz. Die stimmige Übersetzung besorgte Bernhard Robben. Neben seinen Romanen veröffentlicht Burnside bislang dreizehn Gedichtbände und zwei biografische Arbeiten. Auf Deutsch liegt von John Burnside außerdem „Die Spur des Teufels“ („The Devil’s Footprint“) vor, ebenfalls bei Knaus erschienen.
Fazit: Aufgrund seiner sehr poetischen und eigenen Atmosphäre gehört „Glister“ zu den erstaunlichsten Büchern, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Das mag nicht jedem gefallen, aber wenn es den Leser packt, entwickelt „Glister“ einen unnachgiebigen Sog.
Buch-Wertung: (9 / 10)
John Burnside: „Glister“
OT: „Glister“; Übersetzung: Bernhard Robben.
Verlag: Knaus, München, 2009, 289 Seiten.
Weiterführende Links
John Burnside in der englischen Wikipedia
Knaus Verlag: Buchseite mit Leseprobe
John Burnside: „Lügen über meinen Vater“ (deutsch 2011)
John Burnside auf Lesereise 2011 in Deutschland
Ein Kommentar
Hab mich gerade durch die Leseprobe gearbeitet und muss sagen: schwere Kost. Ich fürchte, an dem kompletten Buch würde ich schon recht bald scheitern. Interessant klingt’s trotzdem.