Auf dem Filmfest Hamburg scheint es mir in diesem Festivaljahr eine vergleichsweise große Anzahl Filme zu geben, die sich mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs und/oder dessen Auswirkungen befassen. Das ungarische Drama „Son Of Saul (OT:Saul Fia) ist sicherlich schon thematisch einer der forderndsten Filme des Filmfest Hamburg: die undenkbaren Schrecken der Shoah irgendwie zu fassen zu bekommen ist eine große Anstrengung und Herausforderung, sowohl für Filmmacher als auch für das Publikum.
Der ungarische Jude Saul Ausländer (Géza Röhrig) gehört im Jahr 1944 einem Sonderkommando in dem Vernichtungslager Auschwitz an. Aufgabe der Häftlings-Sonderkommandos ist es, den Deutschen als Arbeitssklaven bei der Judenvernichtung zuzuarbeiten, die Toten zu entsorgen. Als Saul eines Tages einen Jungen als seinen Sohn unter den Toten erkennt, setzt er sich in den Kopf, den Jugendlichen nach jüdischem Ritus zu bestatten. Das bedeutet faktisch den Leichnam, der auch noch autopsiert werden soll, vor der Verbrennung zu retten und in der Erde zu bestatten.
Bei seinen verzweifelten Bemühungen muss Saul nicht nur des Leichnams habhaft werden, sondern auch einen Rabbi finden, der bereit ist, unter den lebensgefährlichen Umständen das Kaddisch zu sagen und die Totenwache zu halten. Ein unmögliches Unterfangen.
Das Langfilmdebüt des ungarischen Filmmachers László Nemes ist thematisch und auch formal eine derbe Zumutung, die emotional nur schwer zu ertragen ist. Dennoch – oder gerade deshalb -lohnt es sich, den in Cannes ausgezeichneten Film anzuschauen. „Son of Saul“ schafft es, die Greuel des Vernichtungslagers irgendwie fassbar zu machen, ohne dabei explizit zu werden oder zu verharmlosen. Ähnliches hatte der amerikanische Schauspieler und Regisseur Tim Blake Nelson 2001 mit „The Grey Zone“, der Verfilmung von Miklos Nyiszli KZ-Erinnerungen, getan.
Innenansicht Konzentrationslager
Was aber „Son of Saul“ so außergewöhnlich, so intensiv und auch einigermaßen erträglich macht, ist die Kameraperspektive von Kameramann Mátyás Erdely. Das Drama besteht fast ausschließlich aus Plansequenzen, also langen Kamerafahrten ohne Schnitt, die immer sehr dicht bei der Figur des Saul sind. Das erinnert an die russische Filmschule wie jüngst Alexej Germans „Es ist schwer, ein gott zu sein“. Man blickt dem gehetzten, verzweifelten internierten Juden fast konstant über die Schulter. Dabei sieht und hört man auch nicht mehr als Saul selbst und der ist so von seiner Aufgabe besessen, dass sich viel von dem Grauen (zum Glück) nur über die Tonspur oder im verschwommenen Bildhintergrund abspielt. Das großartig komponierte Konzept ermöglicht also zugleich Einblicke und Ausblenden der menschenverachtenden Umstände.
So sehr man auch versteht, was Saul emotional antreibt, so wird sein obsessives Handeln im Laufe des Films allerdings scheinbar immer absurder und er muss sich den Vorwurf eines Freundes anhören, er würde die Lebenden für die Toten opfern. Saul bringt nicht nur sich, sondern auch seine gesamte Kolonne und einen Fluchtplan in Gefahr. Auch das zeigt „Son of Saul“ mit kargen Ausdrucksmitteln und großer Intensität.
Wer sich dem Thema Holocaust emotional gewachsen fühlt, sollte diesen erschreckenden, verstörenden, großartigen und intensiven Film nicht verpassen, zumal noch nicht feststeht, ob und wann „Son of Saul“ in Deutschland in die Kinos kommt.
Film-Wertung: (8 / 10)
Son of Saul
Genre: Drama, Historie , Holocaust
OT: Saul Fia, H, 2015,
Länge: 107 Minuten, jiddisch-ungarische OF mit dt. UT
Regie: László Nemes
Drehbuch: László Nemes, Clara Royer
Darsteller: Géza Röhrig, Levente Molnar, Urs Rechn, Todd Charmont, Sándor Zsoter, Marcin Czarnik
Kamera: Mátyás Erdely
Deutscher Verleih: Sony Pictures
Weltvertrieb: Film Distribution
Produktionsfirma: Laokoon Filmgroup
Film-Kontakt: Francois Yon, Film Distribution: fry@filmdistribution.com
Kinostart: nicht bekannt
„Son of Saul“ beim Filmfest Hamburg 2015
Vorstellungen: Sa, 03.10. – 21:30, Passage & Fr, 09.10. – 17:00 CinemaxX Dammtor