1968 – eine Jahreszahl wird zum Inbegriff linker sozialer Bewegungen weltweit. Und dennoch behautet Regisseur Oliver Asayas im Making of zu seinen großartigen Drama „Die wilde Zeit“, 68 sei eigentlich noch gar nicht richtig im Kino gezeigt worden, allenfalls als Projektionsfläche. Dieser These muss man nicht folgen. Assayas nun auf DVD und Blu-ray erscheinendes Drama spielt Anfang der 70er Jahre, doch der Geist der Pariser Studentenunruhen weht durch jede Aufnahme. Mit autobiografischer Färbung und einem Gespür für das Erzählen gelingt Assayas zugleich eine wahrhaftige Studie über das Erwachsenwerden und ein fulminantes Gesellschaftsportrait.
Der Schüler Gilles (Clément Métayer) lebt in einem Pariser Vorort. Zusammen mit seinen politisch engagierten Freunden Christine (Lola Créton) und Alain (Felix Armand) ist er in der linken Szene aktiv und versucht die Gesellschaft zu ändern. Die Schülerproteste haben sich an die Studenten drangehängt und werden von diesen unterstützt. Eine nächtliche Plakatieraktion geht gründlich schief: Gilles wir fast geschnappt und Alain verletzt versehentlich einen der Verfolger schwer. Die organisierten roten Studenten raten den Schülern, sich bedeckt zu halten und bei nächster Gelegenheit erstmal ins Ausland zu gehen.
In Italien treffen Gill, Alain und Christine auch eine internationale linke Szene, die sie auf unterschiedliche Weise beeinflusst. Während Alain in einer Amerikanerin seine große Liebe findet und mit ihr nach Kabul aufbricht, schließt sich Christine einem linken Filmkollektiv an, das Propagandafilme dreht. Gilles geht zurück nach Paris, um sich auf sein Kunststudium vorzubereiten. Gilles, der eigentlich Filme machen will, entwickelt sich als Künstler und macht in der progressiven, linken Szene erste Schritte. Doch es macht sich auch Ernüchterung breit – über den „alternativen“ Lebensstil, den politische Dogmatismus. Und auch die anderen kehren eher desillusioniert nach Paris zurück.
In Olivier Asayas großartiger Coming-of Age Geschichte liegt eine Stimmung zwischen militantem Aufbegehren und nihilistischer Desillusionierung in der Luft. Selten gelang es einem Film so intensiv und zugleich unprätentiös sichtbar zu machen, wie es wohl war, als junger Mensch in dieser Welt mit ihren klaren Feindbildern und festen Ideologien hineinzuwachsen und sich als Individuum irgendwo zu verorten. Das ist zugleich ein sehr gelungenes Zeitportrait, welches Filmmacher Olivier Assayas, wie so viele seiner Filme, auch mit eigener Erfahrung und Erinnerung ausstattet.
Assayas knüpft mit den Figuren Gilles und Christine ebenso aber auch an das eigene, hierzulande kaum bekannte, Filmschaffen an: In „L’eau froide“ von 1994 beschließen zwei Teenager, die zu Beginn der 70er Jahre in einem Pariser Vorort aufwachsen, zusammen in eine Künstlerkommune abzuhauen. Dieses Grundmotiv taucht auch in „Die wilde Zeit“ auf, wird nun aber in den zeithistorischen Kontext gesetzt und bekommt ganz andere Bedeutungen und Ausmaße als allein den jugendlichen Eskapismus. Man mag sich vielleicht wundern, dass die Jugend im Film emotional so sachlich wirkt und eher im politischen Kampf aufbraust als in Liebesangelegenheiten. Und einiges andere mag heute zum Klischee verkommen sein, aber es entspricht doch dem Lebensgefühl jener Jahre. Gilles und Alain werden dabei großartig von Schauspiel-Neulingen verkörpert. Lola Créton als Christine steht den beiden in nichts nach, kann aber mehr Schauspielerfahrung vorweisen.
Wie es der Regisseur selbst formuliert: „Die „Nach Mai“-Generation wurde in das Chaos hineingeboren und wuchs im Chaos auf. Sie hatte keine anderen symbolischen Werte als die Ablehnung der Welt, die Marginalisierung, die Verpflichtung auf das Endergebnis. Ein sehr zerstörerisches Endergebnis, wie sich herausstellt. Diese Generation zahlt einen hohen Tribut.“ Genau das weiß „Die wilde Zeit“ so faszinierend, schillernd und lebendig auf die Leinwand beziehungsweise den Bildschirm zu bringen. Der Originaltitel „Apès Mai“ mag sich dabei durchaus als Wortspiel mit dem Begriff Vormärz erweisen. Mit großer Unmittelbarkeit folgt die Kamera den Akteuren und schafft es, ausgehend vom der Demonstration am 9. Februar 1971 in Paris die emotionale Befindlichkeit einer ganzen Generation einzufangen. Dabei wirkt „Something In The Air“ zu keiner Zeit konstruiert sondern generiert unmerklich einen Erzählfluss, der sowohl stimmig und emotional wahrhaftig wirkt als auch auf fiktionaler und Ebene überzeugen und fesseln kann.
Fazit: „Die wilde Zeit“ ist eines der beeindruckendsten Dramen dieses Kinojahres.
Film-Wertung: (8 / 10)
Die wilde Zeit
OT: Après mai
Genre: Drama, Zeitgemälde, Politik,
Länge: 122 Minuten, F, 2012
Regie: Oliver Assayas
Darsteller: Clément Métayer, Felix Armand, Lola Créton
Extras: Light Show für „Fille qui Mousse“, Makin Of, ca. 20 Minuten
FSK: ab 16 Jahren
Vertrieb: NFP
Kinostart: 30.05.2013
DVD- & BD-VÖ: 05.12.2013
Copyright der Bilder beim Vertrieb