Fortsetzung des Interviews mit Phillippe Falardeau

PhilippeFalardeau1aIn ersten Teil des Interviews mit Philippe Falardeau ging es im Wesentlichen um seinen jüngsten Film „Monsieur Lazhar“ und die kanadische Gesellschaft. Seit dem 12. April läuft „Monsieur Lazhar“ in Deutschland in den Kinos und ist von der Kritik im Großen und Ganzen extrem wohlwollend aufgenommen worden. Im zweiten Teil sprechen wir über den filmischen Werdegang des kanadischen Regisseurs und Autors, der unter anderem auch als Dozent für Scriptwriting tätig ist, über das Erwachsenwerden an sich, und warum seine bisherigen drei Filme mit Ausnahme des Berlinale-Screenings von „Ich schwör, wars nicht!“ nicht in Deutschland zu sehen waren.

BRUTSTATT: Halten Sie sich eigentlich für einen politischen Filmemacher?

FALARDEAU: Mein erster Film, „The Left-Hand Side of the Fridge“ (OT: „La moitié gauche au frigo“, 2000), hat ein politisches Thema. Der Film ist politisch und gleichzeitig lustig. Es gibt Seitenhiebe auf alles und jeden, aber zugleich auch auf mich als Linken. Ich mache mich über die Linken lustig. Ich mache mich zwar über jeden lustig, aber ich glaube, der Film ist auch eine Kritik am totalen Kapitalismus, am Liberalismus. Das war sehr politisch. Und die beiden Filme danach waren mehr oder weniger politisch, der dritte („Ich schwör’s, ich war’s nicht!“) nicht, aber ich hatte einfach das Bedürfnis.

BRUTSTATT: Aber es ist natürlich ein Statement, wenn Sie die Vernachlässigung von Kindern zeigen.

C'est pas moi, je le jure!FALARDEAU: Ja, aber es ist kein politisches Statement, es ist ein soziales Statement. Und weil der Film aus der Sicht des Kindes erzählt wird, war meine wichtigste Frage: Kann ein Kind philosophisch denken? Können wir uns mit 10 Jahren metaphysische Fragen stellen? Ich denke ja, aber uns fehlen die Worte dafür. Ich stellte mir mit 10 Jahren tiefgehende und schwierige Fragen, die meine Eltern mir nicht beantworten konnten, und ich konnte es auch nicht. Und kann es noch immer nicht. Daran war ich vor allem interessiert, aber natürlich ist die Trennung der Eltern eher ein soziales Problem als ein politisches. In dem Film mit Bashir hatte ich Spaß daran, zu etwas Greifbarerem zurückzukehren, mit mehr sozialen und politischen Aspekten. Der nächste Film, an dem ich gerade schreibe, wird eine politische Komödie. Ich komme also zur Politikwissenschaft zurück, aber mit zehn, zwölf Jahren Filmemachen hinter mir. Der Film wird also kein politisches Manifest, sondern ein Kunstwerk mit einer politischen Dimension.

Das Gespräch schweift ab, wir philosophieren über das Erwachsenwerden an sich, die Familienplanung und wie es einen Filmmacher beeinflusst, wenn er selbst Kinder hat. Dann kehren wir zurück, zu der Frage, wie Kinder sich Filmen generell nähern sollten.

BRUTSTATT: Ihr Film „It’s Not Me, I Swear“ beginnt mit einer Selbstmordszene, oder? Ich kenne den Film nicht, aber ich bin neugierig. Das ist sicher schwierig, ich habe nämlich gelesen, dass der Film vor allem für Kinder ist. Wie gehen Sie mit den Altersfreigaben um? Der Protagonist ist ja erst 10. Wie gehen 10-Jährige damit um?

„Ich wusste nicht, dass ich einen Film für Kinder gemacht hatte.“

mein_leben_als_hundFALARDEAU: Die Antwort darauf ist ganz einfach. Ich wusste nicht, dass ich einen Film für Kinder gemacht hatte. Ich dachte, ich hätte einen Film für Erwachsene gemacht. Ich dachte, er sei so ähnlich wie „Mein Leben als Hund“ (1985) von Lasse Halström. Als der Film auf der Berlinale 2009 für die Sektion Generation ausgewählt wurde, sagten die Produktionsfirma und ich: „Nein, das sollte nicht hier laufen. Der Film ist nicht für Kinder.“ Und in Berlin hieß es: „Doch, wir glauben, die Kinder werden den Film lieben“. Also lief der Film dort und ich sah ihn im Zoo-Palast mit Tausenden von Menschen an, die Hälfte waren Erwachsene, die anderen Kinder. Ich begann, den Film mit ihren Augen zu sehen, und so verstand ich es. Die Tatsache, dass die Hauptfigur in jeder Szene zu sehen ist, mit 10 Jahren, natürlich war das für die Kinder interessant. Obwohl ich den Humor für die Erwachsenen gemacht hatte. Sie sind sehr intuitiv. Ich verstand damals, dass ich einen Film für Kinder gemacht hatte, aber das wusste ich vorher nicht. Das Problem war, dass der Film zu Hause eine Freigabe ab 13 hat, so dass die Kinder ihn nicht sehen konnten. Wir steckten fest, weil wir zwei Dinge auf einmal wollten. Und wir hatten ein Problem mit dem Vertrieb. Das leider nicht gut gelöst wurde. Leider gab es diese Verwirrung, denn Filmliebhaber wie ich gingen in die Videothek, wo sie das Filmplakat mit dem Kind sahen. Sie dachten, es sei ein Familienfilm, und wollten ihn nicht sehen. Und die Kinder konnten ihn nicht sehen.

BRUTSTATT: Und wie gingen Sie mit der Altersfreigabe um? […]

FALARDEAU: Gar nicht. Das Problem ist, im Leben gibt es Kinder. Wenn es im Film ein Kind gibt, heißt es plötzlich – ist es ein Film für Kinder, für Familien, für Erwachsene? Die Frage stellt sich in Verbindung mit dem Vertrieb, mit der Vermarktung, mit der Altersfreigabe. Aber im Leben gibt es diese Unterscheidungen nicht.

BRUTSTATT: Ja, aber es geht dabei um Erziehung, darum, Kinder anzuleiten. Eltern können den Film gemeinsam mit ihren Kindern sehen.

FALARDEAU: Ich glaube nicht, dass mein Film so gemacht ist, dass Kinder ihn alleine sehen sollten. Sondern mit ihren Eltern. Nicht nur wegen der Selbstmordszene, denn diese Szene – wenn Sie den Film sehen, sehen Sie, dass sie etwas Lustiges hat. Und wenn Sie die Szene sehen, wissen Sie instinktiv, dass ihm nichts Schlimmes geschieht, dass er nicht sterben wird. Wegen der Musik und der Farben.

BRUTSTATT: Ich kenne den Anfang des Films. Aber heute werden die Dinge in umgekehrter Reihenfolge erzählt.

FALARDEAU: Aber in der Mitte des Films versucht er wieder, sich umzubringen, und diesmal ist es viel dramatischer, weil die Zuschauer wirklich glauben könnten, dass er stirbt. Ich glaube aber, mein größtes Problem mit der Auswahl für die Generation-Sektion war, dass ich dachte, der Film würde dem Interesse der Kinder nicht standhalten. Ich dachte, der Film würde sie nicht interessieren. Da lag ich falsch. Als ich „Monsieur Lazhar“ schrieb, stellte sich mir die Frage erneut. Jetzt wissen wir, dass der Film nicht für Kinder ist. Ein Kind oder ein Jugendlicher kann den Film mit seinen Eltern sehen, aber der Film wird das Interesse der Kinder nicht aufrechterhalten, weil die Schüler nicht in jeder Szene zu sehen sind. Es gibt viele Szenen mit Bashir und den Lehrern, Bashir und der Immigration. Mit 10 Jahren begeistert man sich dafür nicht. Wenn Bashir Lazhar in jeder Szene mit einem Kind zu sehen wäre, wäre es ein Film für Kinder. Ob die Eltern dabei sein sollten? Einen Disney-Film kann man im Fernsehen einschalten und dann mit Freunden Essen gehen, während die Kinder den Disney-Film sehen. Bei meinem Film geht das nicht. Es ist kein „netter“ Film, mit „Monsieur Lazhar“ geht es nicht.

BRUTSTATT: Aber das ist doch die Frage bei der Erziehung: Wie gehe ich mit Kindern und Medien um?

FALARDEAU: Das müssen die Eltern selbst entscheiden. Es geht um Erziehung und den Umgang mit Filmen. […] In der Schule, bei den Lehrern brauchen wir mehr Leidenschaft dafür. Ich weiß es von mir selbst: ich habe mich schon immer für Geschichte interessiert und ich weiß genau, durch welchen Lehrer, in welchem Jahr, wann und warum ich begann, mich für Geschichte zu interessieren. Weil der Lehrer verrückt war, er hatte eine Leidenschaft für Geschichte. Das brauchen wir in den Schulen auch für den Film. Wir brauchen Lehrer, die den Kindern vermitteln, dass es noch andere interessante Filme gibt außer Actionfilmen und den Werken von Disney. Vielleicht müssen diese Filme dann zum Teil mit den Eltern angesehen werden. Jemand muss den Kindern Filme präsentieren. Als ich begann, Filme zu machen, hatte ich keinen einzigen Film von Fellini oder anderen großen Regisseuren gesehen. Ich hatte keine Ahnung, wer diese Leute waren. Es war mir zu unangenehm…

„Ich hatte wirklich Angst und flog los, ohne zu wissen, was ich tun sollte.“

BRUTSTATT: Wie haben Sie denn mit dem Filmemachen angefangen?

FALARDEAU: Es war wirklich reiner Zufall. Zu Beginn der Neunziger sah ich die Fernsehreihe „The Race around the World“ [OT: „La course destination monde“, Kanada 1988-1999, nicht die australische Variante von 1997-98] …

BRUTSTATT: Zu der Zeit haben Sie noch studiert.

CONGO_Affiche_QC1_72FALARDEAU: Ja, genau. Aber für das Programm wurden jedes Jahr acht junge Leute ausgesucht, Amateure, die mit VHS-Kameras um die Welt reisen sollten. Diese Kameras hatten noch nicht einmal Zeitstempel usw. Die Teilnehmer mussten 26 Wochen reisen und in der Zeit 20 kurze Filme zurückschicken. Ich hatte die Serie zwei Jahre zuvor gesehen und dachte: „Wow, was für eine großartige Art zu reisen, was für eine fantastische Erfahrung.“ Also bewarb ich mich, nicht um mitzumachen, sondern um vom Mitmachen zu träumen! So wie man ein Lotterielos kauft. Man kauft es nicht, um Millionär zu werden, man kauft es, damit man eine Woche lang an all das Geld denken kann, das man nie bekommen wird. Nach einem Interview und ein wenig Hin und Her wurde ich ausgewählt. Was würde da passieren? Ich konnte doch gar keine Filme machen! Unter 500 Bewerbern, unter 700 Leuten wurde ich ausgewählt. Es war 1992 und ich musste aufbrechen. Für sechs Monate! Ich musste 20 kurze Filme machen und hatte keine Ahnung, wie ich das Ganze überleben sollte! Ich machte mir ziemlich große Sorgen. Ich hatte wirklich Angst und flog los, ohne zu wissen, was ich tun sollte. Ich kam in Guatemala City an und begann, nach Themen für meine Filme zu suchen. Ich ging in ein Hotelzimmer und kam zwei Tage lang nicht mehr heraus. Ich schrieb den Plan für den Schnitt, dann fuhr ich zum Flughafen.

BRUTSTATT: Es ging nicht nur darum, Videos zu schicken … [sondern um das Filmemachen]?

FALARDEAU: Nein, es ging um den ganzen Prozess, um den ganzen Film. Und man sieht den Film erst, wenn man nach sechs Monaten nach Hause zurückkommt. Die Filme werden nach deinem Plan in Montréal geschnitten. Dann werden sie mit vierwöchiger Verspätung vor einer Jury im Fernsehen gezeigt. Die den Film bewertet, mit 12 von 20 Punkten oder so ähnlich. So lernte ich also das Filmemachen, hatte aber meinen Universitätsabschluss noch nicht und machte schon Filme in Burundi und Syrien, Libyen und Guatemala. Das war mein Werdegang. Als ich zurückkehrte, musste ich Interviews geben, weil ich den Wettbewerb gewonnen hatte. Journalisten begannen mit mir über das Kino zu sprechen: „Was gefällt Ihnen? Mögen Sie Fellini?“ Ich hatte keine Ahnung, wer diese Leute sind. Erst später lernte ich mehr über das Kino.

BRUTSTATT: Haben Sie Filmkunst studiert?

FALARDEAU: Nein, nie. Das war meine Ausbildung.

BRUTSTATT: Ein autodidaktischer Weg.

FALARDEAU: Ja. Und wenn die Arbeit beständiger wird, arbeitet man natürlich auch mit erfahrenen Leute zusammen, die Kameraleute usw. Man bekommt Unterstützung.

BRUTSTATT: Aber man muss die Gelegenheit bekommen, mit ihnen zusammenzuarbeiten.

FALARDEAU: Die erste Gelegenheit war für mich die Chance, alleine zu arbeiten. Ich lernte alles alleine, den Ton, das Bild, das Kamerastativ, das Reisen. Den Rest musste ich im Kopf machen. Das war mein Filmstudium, „Race around the World“. Das war so gut wie jede Filmausbildung, weil ich dabei 20 kurze Filme gemacht hatte. Die meisten waren richtig schlecht. Einige waren gut, aber es ist wie an der Universität. Du schreibst Hausarbeiten, einige sind schlecht, andere sind gut.

BRUTSTATT: Sie haben Ihr Studium mit Auszeichnung abgeschlossen. Sie hätten also auch einen anderen Berufsweg einschlagen können, vielleicht an der Universität?

FALARDEAU: Ich glaube nicht, dass ich mir meinen Werdegang ausgesucht habe, ich glaube, mein Beruf hat mich ausgesucht. Ich sagte ja, ich dachte nie daran, Filme zu machen, ich wollte ein Jahr aussetzen und mit einer Kamera um die Welt reisen. Und ein Teil von mir wollte vielleicht auch diese Person im Fernsehen werden, die reist. Denn nebenbei sollten wir uns auch ein wenig selbst filmen und Dinge sagen wie: diese Woche bin ich in Tansania, letzte Woche hatte ich eine Grippe, in der Woche davor wäre ich beinahe bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Wir versuchten, das Ganze etwas aufzupeppen; mich hatten die Reisen der jungen Leute in den Jahren vorher, die ich mir angesehen hatte, wirklich berührt. Ich wollte dazugehören! Es ging also nicht nur um das Filmemachen. Aber während ich die Filme machte, dachte ich: „Wow!“ Ich wollte immer ein Künstler sein, aber es ging mir wie Salieri in „Amadeus“: Gott hatte mir Gefallen an der Kunst geschenkt, aber nicht das Talent. Ich konnte nicht singen, ich konnte nicht malen.

Wir unterhalten uns über Kreativität, die Inspiration und Muße braucht, über die Möglichkeiten Visionen zu verwirklichen, gerae im Film. Phillippe Falardeau gesteht seine Vorliebe für Science-FictionFilme und wir verweilen ein wenig bei dem Gedanken, warum, er selbst wohl keinen drehen wird. Darüber kommen wir zu der kanadischen Filmproduktionsfirma micro_scope, mit denen Falardeau seine bisherigen Filme realisiert hat. Wie läuft der kreative Prozess dort ab.

BRUTSTATT: […]Die Produktionsfirma [micro_scope] hat Sie nicht mit Vorschlägen bedrängt? Können Sie den kreativen Prozess steuern?

CONGO_Affiche_QC2_72FALARDEAU: Ja. Laut Vertrag zwar nicht, so ist es eben in Nordamerika, aber in Québec gibt es diese Kultur, dass ich meine Filme schreibe, sie mache. Wir können streiten, sehr streiten. Aber mein Produzent hat jeden meiner vier Filme produziert […] Luc Déry begleitet mich also schon seit 12 Jahren. Wir machen es so: Wenn er eine geschäftliche Entscheidung treffen muss [über meine Filme], dann ruft er mich an und fragt mich nach meiner Meinung. Dann trifft er die Entscheidung, auch wenn sie meiner Meinung widerspricht. Aber er hält Rücksprache mit mir und ist da während der kreativen Arbeit. Er ist wirklich ein hervorragender Produzent, weil wir uns über die Dinge auseinandersetzen können. Wenn ich sage Rot und er sagt Schwarz, wird er in der Öffentlichkeit später trotzdem Rot verteidigen. Er verteidigt meine Entscheidung. Und ich verteidige seine Entscheidung. Aber während der Arbeit können wir uns streiten. Ich vergleiche das mit einer Mannschaft im Sport. Wenn man seit Jahren zusammen in einer Mannschaft spielt, weiß man zu jeder Zeit, wo sich der andere befindet. Man weiß, wo man den Pass hinspielen muss, weil man weiß, wo er ist. Und ich weiß, wo mein Produzent ist. Aber es ist schwierig für mich, die Entscheidungen zu treffen, weil er sehr intelligent ist, genauso wie die Produzentin, und wenn sie von etwas überzeugt sind, mit dem ich nicht einverstanden bin, dann gehe ich nach Hause und denke: „Was ist, wenn sie doch recht haben?“

„Wenn ich sage Rot und er sagt Schwarz, wird er in der Öffentlichkeit später trotzdem Rot verteidigen.“

BRUTSTATT: Aber so müssen Auseinandersetzungen doch sein. Sonst wäre es nur ein Gespräch, bei dem keiner zuhört.

FALARDEAU: Ja. Aber manchmal sagt er: „Ich stimme Dir zu, aber anders wäre es besser. Weil wir kein Geld dafür haben, also musst Du die Szene umschreiben.“ Wenn er das sagt, haben wir keine Wahl. Dann schreibe ich die Szene um.

BRUTSTATT: Zu micro_scope: Ich habe mir die Internetseite der Produktionsfirma angesehen und festgestellt, dass mehrere Filmemacher für sie arbeiten. Vertraglich gebunden oder wie funktioniert die Zusammenarbeit?

FALARDEAU: So scheint es, wie bei den alten Filmstudios. Ich habe einen Vertrag über 35 Jahre mit micro_scope! Nein, sie präsentieren zwar die Talente, aber tatsächlich habe ich ihnen geschrieben. Die Webseite ist schon ein Jahr alt. Aber sie wollen mehr als einen Film mit dir machen, sie wollen eine Zusammenarbeit mit Filmemachern, die sich über mehrere Filme entwickelt. Mein Produzent ist einverstanden, wenn ich einen Film mit einem anderen Produzenten mache, aber wenn das Drehbuch von mir stammt, dann möchte er gerne bzw. erwartet, dass ich damit zu ihm komme. Wenn das Drehbuch von jemand anderem stammt, hat er kein Problem damit, wenn ich zu einem anderen Produzenten gehe. Aber seiner Meinung nach können wir unsere Arbeit nur intensivieren, wenn wir lange zusammenarbeiten, und ich teile diese Ansicht. Darum gibt es dieses Gefühl, dass die Regisseure zu ihnen gehören.

BRUTSTATT: Nicht die Familie, sondern eine Wahlfamilie.

FALARDEAU: Genau.

Das Gespräch kehrt zurück zum Thema Familie und kommt auf Falardeaus Leidenschaft für die Archäologie. Mit leutenden Augen erzählt er von den Ausgrabungen eines kanadischen Archäologen, zu denen er eingeladen ist. Es ist der Spaß, die Leidenschaft, mit der man eine Sache verfolgt, die den Regisseur antreibt.

BRUTSTATT: Aber wenn Sie einen Film machen, geht es Ihnen darum, dass alle Spaß haben, oder machen Sie den Film für sich [und Ihre Vision]?

FALARDEAU: Nein, ich denke schon an das Publikum, aber nicht an das ganze Publikum. Ich frage mich, wer sich für den Film interessieren wird, welcher Teil der Bevölkerung, und dieser Gruppe gegenüber versuche ich großzügig zu sein. Aber beim Schreiben entscheide ich mich nicht dafür, der Öffentlichkeit zu gefallen, ich entscheide so, dass ein stimmiger Film entsteht.

BRUTSTATT: Wie läuft es bei Ihrer Produktionsfirma ab, treffen Sie Ihre Regiekollegen häufig?

FALARDEAU: Das ist eine sehr gute Frage. Wir treffen uns, aber auf Partys. Wir arbeiten nicht zusammen, manchmal konkurrieren wir auch ein wenig miteinander. Ich wollte mehr mit ihnen zusammenarbeiten, also bat ich einen Regiekollegen, Stéphane Lafleur, meinen Film [„Monsieur Lazhar“] zu schneiden. Er hat zwei Spielfilme gemacht, „Continental – a Film without Guns“ (2007), der großartig ist, den Sie lieben würden, und einen ganz neuen, der gerade auf Festivals gezeigt wird, „En terrains connus“ (2011), von dem ich den englischen Titel nicht weiß. Er ist ein sehr talentierter Regisseur. Er ist etwa sieben Jahre jünger als ich und ich bat ihn, den Schnitt zu übernehmen, weil er schon als Cutter gearbeitet hatte. Also machte er den Schnitt bei meinem Film. Und ich halte diese Art der Zusammenarbeit für sehr gesund.

Wir unterhalten uns über dasSchreiben von Drehbüchern im allgemeinen, eine kooperation mit einem belgischen Regisseur und die mangelde Qualität vieler Drehbucher, die angesichts von enormen Budgets, die zumeist in Effekte und Stars investiert werden seltsam paradox erscheint. Dann kommen wir auf das Problem des Film-Vertriebs zu sprechen.

BRUTSTATT: Ihr jüngster Film, „Monsieur Lazhar“, ist tatsächlich auch der erste, der in Deutschland gezeigt wird. Wie fühlen Sie sich angesichts von „It’s Not Me, I Swear“, der mit Lob und Preisen überschüttet wurde, aber nicht in den Vertrieb kam?

Lazhar_Plakat-A1.cdrFALARDEAU: Die Enttäuschung war so groß, dass ich darüber nachdachte, das Kino aufzugeben. Ich konnte einfach nicht verstehen, warum meine Filme nicht vertrieben wurden. Und dieser Film, der überall Preise gewonnen hatte, besonders in Deutschland. Eine große Sache, den Leute gefiel er sehr, aber der Vertrieb war das Problem. Sie wussten nicht, wie sie ihn verkaufen sollten. Ich sagte es ja: war es ein Film für Kinder, für Erwachsene, etwas dazwischen? Alle Vertriebsfirmen, die ihn sahen, schrieben mir schöne Briefe. Sie sagten: „Sie haben einen tollen Film gemacht, aber wir nehmen ihn nicht. Weil wir nicht wissen, wie wir ihn verkaufen sollen.“ Sie denken, dass sie diesen verkaufen können. […] Aber warum den anderen nicht! Warum diesen? Das überrascht mich. Ich dachte, „Monsieur Lazhar“ würde in ein paar Kinos in Frankreich und ein paar Kinos in Québec laufen. Jetzt wurde er nach Neuseeland, nach Brasilien usw. verkauft, und ich weiß ehrlich gesagt nicht, warum. Weil er zugänglicher ist, massentauglicher? Ich weiß es nicht. Es ist ein schwieriges Thema. Ich kann es nicht erklären. Dem Film sind Beine gewachsen, er begann zu laufen und ich kann ihn nicht mehr kontrollieren (lacht). Er ist wie ein Tier und ich laufe hinter ihm her. Und ich habe keine Erklärung für das, was geschieht.

„Sie haben einen tollen Film gemacht, aber wir nehmen ihn nicht!“

BRUTSTATT: Aber es macht Ihnen Spaß, hinter dem Film herzulaufen?

FALARDEAU: Ja. Ich bin allmählich etwas erschöpft [wegen der vielen Termine usw.], aber es macht mir Spaß. Jede Vorführung hat ihre eigene Persönlichkeit. Den Film zu zeigen ist wie eine Person zu treffen. Manchmal sind die Menschen ganz ruhig und dennoch begeistert von dem Film.

Falardeau erzählt noch einige Anekdoten über Festival-Screenings seiner Filme und über die noch anstehenden Präsentationen von „Monsieur Lazhar“.

FALARDEAU: […] Nach dem Filmfest Hamburg reise ich nach Abu Dhabi in den Vereinigten Arabischen Emiraten, um mit dem Film das Festival dort zu eröffnen, anschließend läuft er als Eröffnungsfilm zu Hause in Québec, dann in Paris, in Whistler, in Britisch-Kolumbien und dann sterbe ich.

BRUTSTATT: […] Ich bin sicher, dass die Leute in Abu Dhabi den Film lieben werden.

PhilippeFalardeau1aFALARDEAU: Ich weiß nicht. Es gibt diese Szene, in der er ein Kind schlägt und das Mädchen sagt: „Sie müssen sich bei Salman entschuldigen.“ Er sagt: „Warum?“ Sie: „Wir sind nicht in Saudi-Arabien“. Ich frage mich, wie das in den Vereinigten Arabischen Emiraten ankommt. […] Aber dort herrscht große Enttäuschung, weil der Darsteller nicht kommen kann. Er kann mich nicht begleiten. Die Festivalleitung dachte sich, [es wäre eine tolle Sache,] mit der arabischen Presse und er spricht natürlich Arabisch. Das ist natürlich eine Enttäuschung. Ein Freund von mir, der letztes Jahr dort war, hat mir erzählt, man braucht eine Landkarte, nur um sich im Hotelzimmer nicht zu verlaufen (lacht). […] Okay, ich muss mein Zimmer räumen. Es war wirklich schön, sich mit Ihnen zu unterhalten. Das Interview hat großen Spaß gemacht, was für ein langes Interview. Danke schön.

Das Interview fand in Hamburg anlässlich der Deutschlandpremiere von „Monsieur Lazhar“ auf dem Filmfest Hamburg 2011 am  07. Oktober 2011 statt.  Interview: Frank Schmidke, Übersetzung aus dem Englischen: Claudia Lassek.

Weiterführende Links:

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Monsieur Lazhar internationale Homepage
Monsieur Lazhar deutsche Homepage