Ob Bob Dylans „Like a Rolling Stone“ der beste Song aller Zeiten ist, wie das amerikanische Musikmagazin Rolling Stone 2004 feststellte, darüber lässt sich streiten. Einflussreich ist der Titel unbestreitbar. Der amerikanische Musikjournalist und Kulturkritiker Greil Marcus begibt sich in seinem Buch „Like a Rolling Stone – Die Biographie eines Songs“ auf Spurensuche und entführt den Leser auf eine Entdeckungsreise.
Dass Greil Marcus kluge Bücher über Musik schreibt, ist spätestens seit „Lipstick Traces – Eine geheime Kulturgeschichte von Dada bis Punk“ klar. Der 1989 erschienene, kulturelle Rundumschlag (Deutsche Fassung 1992, vergriffen) ist längst zum Standardwerk geworden. Auch als Dylan-Experte hat sich Marcus mit „Basement Blues“ (deutsche Ausgabe 1998, OT: „Invisible Republic“, 1997) und der jüngst erschienenen Zusammenstellung von Dylans Schriften („Bob Dylans: Writings 1968-2010)“ einen Namen gemacht.
Deus ex Machina
In „Like a Rolling Stone“ (2005) gelingt es dem Autor, musikalische Faszination in Worte zu fassen, und so dem Mysterium aus Tonfolgen und Worten etwas näher zu kommen. Der Untertitel der Originalausgabe „Bob Dylan at the Crossroads“ beschreibt das Vorhaben dabei treffender und zweideutiger als die Lebensgeschichte eines Songs. Marcus seziert den Sixties-Hit auf unterschiedlichen Ebenen und setzt ihn wieder zusammen. Dass die detailierte Betrachtung der Einzelinstrumente, der Worte und Zeilen des Textes und der mühseligen Session nicht zu quälender Langeweile führt, liegt an seiner Fähigkeit, unverbrauchte und anregende Worte für etwas zu finden, was eigentlich dem Ohr und dem Gehirn vorbehalten bleibt: Musik. Niemand übersetzt Hören so nachvollziehbar in Lesen.
Orte und Ideen am Highway 61
Der Autor hinterfragt, was „Like a Rolling Stone“ für Dylans Karriere bedeutete und in welchem kulturellen Klima sich die Wirkung des Hits inmitten der 1960er Jahre ausbreitete. Welches Risiko ging der gefeierte Folksänger mit seiner Hinwendung zum Rock tatsächlich ein? Und warum wurde der sechsminütige Rocksong ansatzlos zu einem Hit, der die Sender quasi zwang, die von der Plattenfirma vorgesehene, dreiminütige Radioversion zu verwerfen und den ganzen Song zu spielen?
Der Kulturkritiker stellt Zusammenhänge her und gelangt dabei zu überraschenden Einsichten und Verbindungen, so zieht er eine Linie von Dylans Erlösungsversprechen, das „Like a Rolling Stone“ beinhaltet, zur hymnischen „Go West“-Version der Pet Shop Boys. Der musikinteressierte Leser kann das nachvollziehen.
Mindestens ebenso spannend und informativ wie die Hintergründe sind allerdings die Versuche von Bob Dylan und seinen Mitmusiker, den Song zu fassen zu bekommen, der das einflussreiche Album „Highway 61 Revisited“ eröffnet. Das gilt ebenso für die Aufnahmesessions wie für die Konzertversionen während der anschließenden Tour. Der Barde und die Band arbeiten sich an „Like a Rolling Stone“ ab, meistern den Song nach der Aufnahme aber erst wieder gegen Ende der Konzert-Reise. Bedarf es wirklich des legendären „Judas“-Zwischenrufs, um aus Dylan und der Band die Trotzreaktion herauszukitzeln, um den Auftritt mit einer grandiosen Version des Songs zu krönen?
Mehr als nur Trotz: „Play it fucking loud!“
Dokumentiert ist dies auf „Bob Dylan Live 1966 – The Bootleg Series Volume 4“,dem „The Royal Albert Hall Concert“. Der Bootleg kursierte schon Jahrzehnte lang unter diesem Titel, so dass die Plattenfirma den Namen auch für die offizielle Veröffentlichung beibehielt, obwohl die Aufnahme in Manchester gemacht wurde.
Marcus‘ „Biographie eines Songs“ endet wie sie beginnt: mit dem Song selbst. Am Schluss werden die Aufnahmesessions zu „Like a Rolling Stone“ beschrieben und man spürt die Anspannung. Höchste Zeit also, mich endlich ernsthaft mit Bob Dylan zu beschäftigen. Die im Oktober 2010 herausgekommene Box mit den original Mono-Aufnahmen der ersten acht Alben steht schon auf der Liste.
Fazit: „Like a Rolling Stone“ ist definitiv nicht nur für Dylan-Fans interessant. Leichte Kost sind Greil Marcus‚ Ausführungen sicher nicht und der Leser muss sich erst in die bildreiche und wortgewandte Prosa hineinfinden. Dann aber entwickeln die Gedanken und vor allem die Höreindrücke des Autors eine Sogwirkung, die förmlich dazu drängt, die Musik selbst (wieder) zu entdecken. Mehr kann man von einem Buch über Musik nicht erwarten.
Buch-Wertung: (9 / 10)
Greil Macrus: Like a Rolling Stone – Die Biographie eines Songs
OT: Like a Rolling Stone. Bob Dylan at the crossroads
Verlag: Kiepenheuer & Witsch, 2005
Format: Taschenbuch, 304 Seiten
ISBN-10: 3462034871
ISBN-13: 978-3462034875