Es bleibt eine grauenvolle Vorstellung, nicht mehr zu wissen, wer man ist. In Jan Schomburgs zweitem Spielfilm ereilt eine Akademikerin in mittlerem Alter dieses Schicksal. Nun muss sie wieder eine Persönlichkeit entwickeln. Das einfühlsame Drama zeigt aber auch, wie belastbar die Mitmenschen von Betroffenen sein müssen. Das führt zuweilen zu einigem absurden Humor.
Lena ist eine erfolgreiche Genderforscherin und Autorin. Aus heiterem Himmel erleidet sie während einer Party akute Verwirrungszustände. Die Diagnose des behandelnden Neurologen fällt zunächst sachlich aus. Als Folge einer Hirnhautentzündung leidet Lena an retrograder Amnesie; Teile ihres Gedächtnisses funktionieren nicht mehr. Das kann sich schnell oder über einen längeren Zeitraum oder auch gar nichtmehr ändern. In Lenas Fall, weiß sie weder wer sie ist, noch erkennt sie ihre Mitmenschen wieder.
Gatte Tore weiß zunächst nicht wie er mit seiner Frau umgehen soll. Nach dem kurzen Krankenhausaufenthalt findet sie auch zu Hause keine Anhaltspunkte, die ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Dafür wird sie mit dem Leben einer ihr völlig Fremden konfrontiert. Die Verwirrung hält an, doch Lena versucht ihre alte Persönlichkeit wieder zu erlernen. Ihre Tagebücher sind dabei allerdings nicht nur hilfreich.
Was ist, wenn es nicht vorbeigeht? Was, wenn der gravierende Gedächtnisverlust nicht wieder verschwindet? Die Frage, die sich Filmmacher Jan Schomburg in seinem zweiten Langfilm stellt, zielt aber auch darauf ab, ob der Zustand des Gedächtnisverlustes auch eine gewisse Freiheit beinhaltet. Davon ist in Lenas Leben allerdings nicht viel zu erkennen.
Mit dem Vergessen der Persönlichkeit geht auch eine große emotionale Verwirrung einher. Das macht es für sie und ihre Mitmenschen nicht eben einfacher, weil Lena auch Gefühle wieder erlernen muss. In gewisser Wese ist sie von kindlicher Naivität, die allerdings konstant dadurch getrübt wird, dass ihre Freunde und vor allem Tore die bekannte Lena wiederhaben wollen. So lernt Lena ihr altes Ich zu spielen und sorgt damit für etliche Verwirrung.
Die Kamera ist ganz nah an der Figur dran und findet eindrucksvolle Bilder, um Lenas Verwirrung auch formal zu spiegeln. Musikalisch gibt der Kenny Rogers Hit „Just dropped in (To See What Condition my Condition was in“ den Auftakt zu dieser psychologischen Selbsterkenntnis. Und wie eingangs schon erwähnt, kommt es auch zu humorvoll dargestellten Verwirrungen, wenn Lena etwa ihre Mutter im Altersheim besuchen will und statt dessen eine völlig unbekannte alte Dame besucht.
An anderer Stelle bleibt einem das Lachen schon eher im Hals stecken, aber die mitunter schockierende Offenheit, mit der Lena sich selbst neu erfindet, schert sich nicht weiter um mögliche Konflikte und Konsequenzen, weil Lena diese überhaupt nicht absehen kann. Maria Schrader hat sich die Rolle mit fast beängstigender Intensität angeeignet. Jede neue Szene ist auch für den Zuschauer ein emotionales Knallbonbon.
Vor allem Tore hat große Probleme mit dem Zustand seiner Frau, da er ebenso wie sie ein intellektueller Mensch ist und ihm auch der Austausch fehlt. Immer wieder lässt er sich hoffnungsfroh überraschen, wenn es scheint, als hätte Lena ein Stück ihres Lebens wieder erinnert, nur um dann zu erkennen, dass sie es sich neu angeeignet hat. An diesem „Fast sowie früher sein“ droht die Beziehung zu scheitern- aber eben nur fast.
Fazit: „Vergiss mein Ich“ lotet auf eindrückliche Weise den Verlust der Persönlichkeit aus und findet gelungenen Situationen um diesen irgendwie unvorstellbaren Zustand fassbarer zu machen. Die großartigen Darsteller machen Jan Schomburgs Film dann zu diesem sehenswerten Film.
Film-Wertung: (8 / 10)
Vergiss mein Ich
Genre: Drama
Länge: 95 Minuten, D, 2014
Regie: Jan Schomburg
Darsteller: Maria Schrader, Johannes Krisch, Ronald Zehrfeld
Verleih: Real Fiction
Kino-Start: 01.05.2014
Real Fiction Filmseite mit Kinofinder