Marzi – Eine Kindheit in Polen

Es hat in bisschen gedauert, bis die Graphic Novel „Marzi“ auch bei uns erschienen ist, aber das Warten hat sich gelohnt. Rechtzeitig zum Erlanger Comic-Salon stellte Panini den ersten Sammelband der Bildergeschichte vor (1984-1987), die sich mit der Kindheit der Autorin Marzena Sowa, genannt Marzi, beschäftigt. Der französische Zeichner Sylvain Savoia setzt die Alltagserinnerungen an ein kommunistisches Polen kongenial in Szene. So ist eine wunderbare Graphic Novel entstanden, die es zu lesen lohnt.

Marzi wächst im Polen auf. Sie ist ein Einzelkind und ihre Familie lebt in einem Hochhaus in einer Arbeitersiedlung in der Nähe von Warschau. Aus der Sicht eines kleinen Mädchens wird dessen Lebewelt geschildert, mit allen Höhen und Tiefen, Freuden und Ängsten und vor allem mit viel Alltagsgeschehen, das dem jungen Mädchen undurchschaubar vorkommt. Das Polen der 1980er Jahre ist eine typische kommunistische Gesellschaft, in der häufig Mangel und Knappheit herrscht, was die grundlegende Versorgung der Bevölkerung angeht. Ältere Leser werden das aus DDR-Zeiten erinnern, selbst wenn sie im Westteil der Republik aufgewachsen sind. So grundverschieden sind die DDR und das Polen unter Jaruzelski nicht.

Das Wunderbare und Einnehmende an Marzi ist die kindliche Erzählperspektive, aus der alles geschildert wird. Die kindliche, unwissende Sicht auf Familie, Religion, Gesellschaft und große Ereignisse, die sich im Alltag widerspiegeln, gewinnt schon nach wenigen Seiten eine hohe literarische Qualität. Die Perspektive wird konsequent beibehalten, gelegentlich allerdings um das Wissen der älteren Marzi ergänzt. Und so wie ein Kind sich erinnert, ist auch „Marzi“ als Graphic Novel episodisch, szenisch gehalten. Es sind kleine Ausschnitte und Begebenheiten aus dem Leben, an die sich Marzi erinnert und die sich zu einem komplexen Bild dieser Kindheit und dieses Landes verdichten. In den Zeitraum von Marzis Kindheit fallen auch der Reaktorunfall in Tschernobyl (1984)und das erste öffentliche Auftreten der Solidarosc-Gewerkschaft (1987). Das sind die großen Eckpfeiler einer polnischen Kindheit, die im Wesentlichen typisch verläuft. Aber gerade das macht den Charme und die Qualität der Geschichte aus.

MARZI1_144-portraitDie Autorin Marzena Sowa verlässt Polen als junge Frau und lässt sich in Frankreich nieder. Mit dem französischen Comic-Zeichner Sylvain Savoia lebt sie seit Jahren zusammen. Irgendwann entstand die Idee, Marzenas Kindheit als Comic zu illustrieren und ihre – aus heutiger, westlicher Sicht etwas exotisch und abenteuerlich anmutende – Lebensgeschichte literarisch zu verwenden. Was die Polin zunächst nicht erst nahm, entpuppt sich nach ersten Entwürfen als ein vielversprechendes Projekt. Savoia, der bislang an diversen Comicserien gearbeitet hat, erschließt mit „ Marzi“ für sich selbst künstlerisches Neuland. Die Episoden in „Marzi“ sind im Stil alter Zeitungscomics in strengen Panels angeordnet und der Text kommt begleitend hinzu. Auf Dialoge wird dennoch nicht ganz verzichtet, wenn es der Dramaturgie dienlich ist. Die Zeichnungen sind grundsätzlich schlicht gehalten und entsprechen der kindlichen Perspektive. Das hindert Savoia allerdings nicht daran, einen unglaublichen, sehr realistischen Detailreichtum in seine Zeichnungen zu legen. Farblich ist „Marzi“ fast unbunt gehalten und wie im ehemaligen Ostblock scheint über allem ein Grauschleier zu liegen, der von den Abgasen der Kohleheizungen herrührt. Letztlich geht die graphische Umsetzung weit über eine reine Illustration der Geschichte hinaus und verleiht dem Mädchen Marzi und seinem Leben in Polen eine charmante Lebendigkeit.

Kein Wunder also, dass die Alltagserlebnisse eines polnischen Mädchens zu einer Erfolgsgeschichte wurden: 2008 erschien der erste Marzi Band im Dupois Verlag, mittlerweile ist „Marzi“ in vielen Sprachen erschienen und heimst international viel Lob ein. Wer sich ein wenig an „Persepolis“ von Marjan Satrapi erinnert fühlt, liegt nicht so weit daneben. Wer „Persepolis“ mit Genuss gelesen hat, wird auch „Marzi“ ins Herz schließen. Und die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Bleibt zu hoffen, dass die Erlebnisse der älteren Marzi nicht wieder so lange auf sich warten lassen.

Fazit: Die französische Graphic Novel „Marzi 1984 – 1987“ schildert eine fast alltägliche Kindheit im kommunistischen Polen. Auf charmante Weise wird der gesellschaftliche Alltag aus kindlicher Sicht erlebt. Auch die perfekte bildliche Umsetzung sorgt dafür, dass in „Marzi“ aus einem scheinbar gewöhnlichen Leben eine bunte, vielschichtige und herzerwärmende Geschichte wird.

Comic-Wertung: 8.5 out of 10 stars (8,5 / 10)

MARZI1_144Sowa, Savoia: Marzi – 1987 -1987
OT: Marzi. La Pologne vue par les youx d’une enfant. 2008
Autorin: Marzena Sowa
Zeichner: Sylvain Savoia
Übersetzung: Michael Leimer
ISBN: 978-3-86201-401-9
Verlag: Panini, Hardcover, 224 Seiten.
VÖ: 19.06.2012

weiterführende Links:

Marzi bei Panini

Online-Leseprobe bei Mycomics.de