Manchester By The Sea: Schnee in einen Brunnen schaufeln

Es ist schon erstaunlich genug, dass diese amerikanische Independent-Produktion von Filmmacher Kenneth Lonergan für gleich fünf Golden Globes nominiert war. Immerhin ist für Hauptdarsteller Casey Affleck ein Preis herausgesprungen. Das dürfte das Zuschauerinteresse an dem sehr intensiven Drama glücklicherweise deutlich erhöhen.

Eher lustlos prokelt Lee Chandler (Casey Affleck) als Hausmeister in Boston herum. Er erledigt seine Arbeit, ist wortkarg oder sogar unfreundlich, aber zuverlässig. Lee lebt in einer Kellerwohnung und schüttet sich regelmäßig den Kopf mit Alkohol zu. Der Mann scheint keine großen Ambitionen zu haben.

Warum das so ist, wird im Verlauf von Kenneth Lonergans Drama „Manchester By The Sea“ deutlich. Die Geschichte nimmt Fahrt auf, als Lees Bruder Joe (Kyle Chandler) an einem Herzfehler im nahegelegenen Heimatort, dem Küstenstädtchen Manchester By  The Sea, stirbt.  Lee wird als Vormund für seine fast erwachsenen Neffen Patrick (Lucas Hedges) eingesetzt und obwohl Onkel und Neffe eigentlich einen guten Draht zueinander haben,  weigert sich Lee standhaft, wieder in seine Heimatstadt zu ziehen; nicht nur, weil seine Ex-Frau Randi (Michelle Williams) noch hier lebt.

In Rückblenden rollt das Drama Lees tragische Geschichte auf, und es wird schnell deutlich, dass ein extrem außergewöhnlicher Vorfall das Leben und die Ehe des wortkargen Mannes erschüttert haben muss. Allerdings bleibt diese Offenbarung lange aus, was „Manchester By The Sea“ zu einem emotional außergewöhnlich spannenden Drama macht. Die Erinnerungen fügen sich sehr organisch in das Erzähltempo, mit dem Kenneth  Lonergan das im Grunde behäbige und beschauliche Kleinstadtleben charakterisiert.

Hier passiert nicht viel: Jeder kennt jeden. Arbeit ist für die meisten Leute hier körperlicher und handwerklicher Natur, außer Kneipe und Eishockey  gibt es wenig Ablenkung. Und dennoch ist Patrick hier fest verwurzelt und will nicht weg, sondern möglichst bald das Ausflugsschiff des verstorbenen Vaters übernehmen. Doch gerade in den scheinbar schlicht beobachteten  Alltagsszenen versteckt das grandiose  Drama „Manchester By The Sea“ die Leerstellen, die Trauer, die Verluste, welche sich immer stärker zu einer sehr ergreifenden Familiengeschichte verdichten.

Filmmacher Kenneth Lonergan hat den Erfolg (zumindest bei den Kritikern) redlich verdient. „Manchester By The Sea“ ist erst seine dritte Regiearbeit. Für „You Can Count On Me“ (2001) gab es auch schon Kritikerlob, aber es dauerte bis 2011, bis Lonergan „Margaret“ drehte, der trotz  eines Starensembles um Matt Damon in Deutschland nicht in die Kinos kam. „Machester By The Sea“ zeigt eindrücklich, welch großartiger Erzähler Lonergan ist.

Als Darsteller ist Casey Affleck („Gone Baby Gone“, „Die Ermordung des Jesse James…“) noch nie durch seine Extrovertiertheit aufgefallen. In „Manchester By The Sea“ perfektioniert er sei beinahe eingefrorene Kunst zu einer phlegmatischen Lethargie, die  eine erstaunliche Tiefe erzeugt, sobald man sich auf die stetig unruhigen Augen dieses geplagten Charakters einlässt. In fast jeder Szene spürt man den Zwiespalt zwischen Weltekel und familiärem Verantwortungsgefühl. Aber die Welt in „Manchester By The Sea“ ist eine Männerwelt, aus der die Frauen auf merkwürdige Weise einfach verschwunden scheinen. Da hat es Michelle Williams („Blue Valentine“, „Brokeback Mountain“) schwer mit ihren wenigen Auftritten Aktzente zu setzen. Im Grunde allerdings ist das gesamte Ensemble einfach in Topform und auch Lucas Hedges („Kill The Messenger“, „Labor Day“) ist in seiner ersten erwachseneren Rolle sehr präsent.

Hat einen die langsame und intensive Erzählung erst einmal gepackt, gibt es kaum noch einen Ausweg aus der tragischen Wucht des Dramas. Gerade das zurückgenommene, geradezu widerwillige Spiel von Casey Affleck führt zu einer extrem faszinierenden, düsteren Intensität, die trotz allem auch lebensbejahende Elemente aufweist. Ganz großes Kino.

Film-Wertung:9 out of 10 stars (9 / 10)

Manchester by the Sea
OT:  Manchester by the Sea
Länge:  135 Minuten, USA,  2016
Regie:  Kenneth Lonergan
Darsteller: Casey Affleck, Kyle Chandler, Michelle Williams,  Matthew Broderick, Lucas Hedges
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Universal Pictures
Kinostart: 19.01.2017

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