Die Graphic Novel „Barcelonas dunkles Herz“ erzählt nicht weniger als die (fiktive) Lebensgeschichte des Don Carlos Morena Vargas, der sich im Spanien unter der Herrschaft von General Franco ein einflussreiches Imperium aufbaut. Die von fünf Comic-Kreativen inszenierte Gangster-Saga zeigt viel Zeit- und Ortskolorit und ist sehr epochal ausgefallen. In Juni beim stilsicheren Verlag Schreiber & Leser veröffentlicht.
Im Jahr 1948 steht ein junger Mann mit seinen Freunden am Bahnhof von Barcelona und macht sich auf den Weg nach Frankreich. Carlos Moreno ist auf dem Weg nach Marseille, wo ihm ein Verwandter Arbeit versprochen hat. Die Verhältnisse in Spanien und in Barcelona sind nach dem Krieg immer noch sehr ärmlich. Im Zug dann bietet ihm eine Frau aus Perpignan ebenfalls Arbeit in ihrem Gemüselanden an, falls es mit dem Verwandten nicht klappt.
Kurzentschlossen steigt Carlos direkt mit aus und macht sich als rechte Hand im Gemüseladen nützlich. Doch in Barcelona wird immer noch nach einem mysteriösen Frauenmörder gesucht. Der hatte in den 1930ern bereits Carlitos Mutter getötet, weshalb die Halbweise auch in die Obhut des wohlhabenden Don Alejandro Vargas gerät. Dessen Tochter Paula war schon als junges Mädchen in Carlito verliebt.
Und während Carlos in Perpignon sein Auskommen hat, hat in Barcelona der Polizist und Franco-Anhänger Don Jose von einem Spitzel den Tipp bekommen, dass Carlos Moreno der gesuchte Frauenmörder sein soll. Das bringt dessen Vater in eine Bredouille, denn er weiß nicht, wohin sein Sohn abgehauen ist.
Auswandern aus Armut
Bald darauf zwingen die Umstände Carlos nach Barcelona zurückzukehren. Doch es ist ein nach Hause Schleichen und keine ruhmreiche Rückkehr. Als er in einem Nachtclub ein Dach überm Kopf sucht, lernt er die Tänzerin Eva kennen. Die macht ihn mit Lluis bekannt, der die Bars in Barcelona mit Alkohol und Delikatessen versorgt.
Carlos hat eine nicht ganz legale Import-Route aus Frankreich anzubieten. Langsam kommt Carlos in seiner Heimatstadt wieder auf die Beine und auch Paula freut sich, dass ihre große Liebe zurück ist. Ebenso Don Alejandro der dem jungen Mann beruflich eine Chance im Familienunternehmen gibt.
„Barcelonas dunkles Herz“ ist eine Gauner-Saga, die dem Klassiker „Der Pate“ von Mario Puzo nacheifert. Freilich ist die Dichte an Charakteren und Familien-Mitgliedern in einer Bildgeschichte mit 144 Seiten nicht annähernd vergleichbar umfassend und ausführlich. Aber diese Gauner-Biographie hat dafür andere Stärken. Während der kriminelle und machtpolitische Aufstieg der Hauptfigur weitgehend klassisch verläuft, sorgen doch einige Elemente für Belebung und für unerwartete Wendungen.
Die Rückkehr des verlorenen Sohns
Der gesamte Handlungsstrang um den Frauenmörder sorgt für eine tiefe Verwundung und Verbindung von Carlos mit dem Stadtteil und der Arbeiterschicht, aus der er stammt. Das ist schon packend eingebunden, ohne belehrend zu sein.
Der epochale Aspekt dieser Gauner-Geschichte liegt darin, dass sie erzählt wird in der Franko-Diktatur und parallel dazu. Auch das wird nicht explizit erwähnt, sondern zieht sich als Zeitkolorit und in einigen Charakteren durch die Erzählung, die folglich Jahrzehnte umspannt.
Wer sich ein bisschen mit der Spanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigt hat, weiß, dass der faschistische Armee-General Franco seinen Aufstieg mit der Partei der Falange gemacht hat. (Deren Symbol sind die im Titel zitierten „Pfeile in einem Joch“.) In den 1930er Jahren entbrannte ein Bürgerkrieg zwischen den Faschisten und den Anarchisten, den diese zwischenzeitlich gewonnen hatten. Bis der Putsch einsetzt und Franco aus dem Exil zum Regenten gewählt wurde. Franco herrschte bis zu seinem Tod 1975 als „El Caudillo de España“ („Der Führer von Spanien“) durch die Gnade Gottes“.
Knappheit und Spitzelei
Auch die Städterivalität zwischen Madrid und Barcelona hat Aspekte aus der Bürgerkriegszeit, denn Barcelona war als Hauptstadt Kataloniens fest in der Hand der Anarchisten und deren Galionsfigur Buenaventura Durutti wurde dort in Anwesenheit wahrer Menschenmengen beigesetzt. So sind in den frühen Jahren in „Barcelonas dunkles Herz“ auch einige Plakate der CNT an den Wänden zu sehen. Und der faschistische Polizist steht durchaus auch stellvertretend für die Zentralmacht, die die Unabhängigkeit Kataloniens verhindern will. Aber das nur am Rand. Mehr lässt sich bei Wikipedia nachlesen.
Erzählerisch haben sich die beiden Autoren Denis Lapière und Ganbi Jakupi dazu entschieden nach dem zweiten Weltkrieg anzusetzen, auch weil Carlos zu dem Zeitpunkt sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. In Rückblenden und in Schlaglichtern werden Kindheit und Jugend aufgearbeitet bis die erzählerische Gegenwart erreicht ist. Dann geht es in wesentlichen Stationen durch die Jahrzehnte. Das ist souverän und interessant erzählt, baut aber keine Thriller-Spannung im Sinne einer nervenauftreibenden Dringlichkeit auf. Vielmehr kommt solche Spannung innerhalb der Szenen gelegentlich, aber eher selten zum Tragen.
Ein klassisch erzähltes Epos würde ich das nennen. Lapière, der unter anderem seit 2014 „Michel Vaillant“ verfasst und auch die Literaturadaption „Martin Eden“ nach Jack Londons Roman, und Gani Jakupi, der sowohl Szenarist als auch Illustrator ist und aktuell in Barcelona lebt, finden einen tragenden Erzählton und greifen eigentlich nie auf erklärende oder orientierende Text-Boxen zurück. Alles erschließt sich über die Dialoge. Und die Zeichnungen.
Der Aufstieg des Krämersohns
Auch die ebenso klassischen wie lebendigen und detailreichen Illustrationen sind in Kooperation dreier renommierter Zeichner entstanden. Ich habe keine Infos über die Arbeitsteilung gefunden, aber es tut auch wenig zur Sache, wer für welche Elemente zuständig ist. Spannend ist, dass alle drei in Barcelona ansässig sind, und die Stadt kennen, die sie durch die Jahrzehnte und die Regentschaft Francos porträtieren.
Dieses Ortskolorit ist unaufgeregt eingebaut wie die Leserschaft das auch aus Filmen kennt. Hier wird nichts ausgestellt, obwohl es bildstark genug wäre. Die Innenbögen einer Kathedrale wirken ebenso prachtvoll und detailliert wie die Straßenbahn auf dem breiten Boulevard. Die Interieurs der Villa von Don Alejandro ebenso realistisch wie der Blick auf die Dachwohnung des Polizisten.
Tatsächlich fühlte ich mich während eines Brandes und auch während eines Arbeiter-Aufstandes stark an die Bildsprache der linken Agitationskultur und eben der zeitgenössischen Plakate der 1930er erinnert. Aber das mag jede:r selbst lesen. Die drei Illustratoren haben‘s drauf. Dazu zählt neben Edouard Torrents („Le Convoi“) und Martín Pardo (biografische Musiker-Comics über Chet Baker und Miles Davis) auch Ruben Pelejero zählt, der auch die neuen Abenteuer des „Corto Maltese“ illustriert, die ebenfalls bei Schreiber & Leser verlegt werden. Aber das ist eine andere Geschichte.
Wer an großen Gangster-Epen Gefallen findet, sollte sich „Barcelonas dunkles Herz“ nicht entgehen lassen. Im Genre der Graphic Novel oder der Erwachsenencomics gibt es wenig Vergleichbares, das so stimmig und doch so abgeschlossen und kompakt von kriminellen Lebenswegen erzählt.
Comic-Wertung: (8 / 10)
Barcelonas dunkles Herz
OT: Barcelona, amé noir, 2024
Genre: Graphic Novel, Krimi, Drama
Autoren: Denis Lapière, Gani Jakupi
Illustration & Farben: Ruben Pelejero, Edouard Torrents, Martín Pardo,
Übersetzung: Resl Rebiersch
Korrektorat: Pit Kannapin
ISBN: 978-3965821606
Verlag: Schreiber & Leser, Hardcover, 144 Seiten
VÖ: 11.06.2024
Barcelonas dunkles Herz bei Schreiber & Leser
Barcelona bei Wikipedia
Wikipedia Eintrag zu Franco