Tardi – Der Dämon aus dem Eis: Eiskalte Überraschung

Es ist noch gar nicht so lange her, dass der große französische Comic-Künstler Jacques Tardi seinen Zyklus mit Abenteuern von „Adele Blanc-Sec“ mit dem zehnten Band vollendet hat. Nun legt der umsichtige Comic-Verlag Schreiber & Leser, der die „Adele“-Gesamtausgabe hierzulande herausgibt, mehr als eine „Ergänzung“ zu dem Abenteuerzyklus vor. „Der Dämon aus dem Eis“ ist eine eigenständige, auch ohne Vorwissen genießbare Geschichte, die dann irgendwie doch in dem Kosmos der abenteuerlichen Adele gehört. Aber dazu später mehr.

Am 3.10.1889 kreuzt ein Schiff durch das nördliche Eismeer. Die „Anjou“ erblickt das erstaunliche Wrack eines anderen Schiffes, das auf einem Eisberg festsitzt. Der Kapitän schickt ein Rettungsboot aus, auf dem Wrack nach Überlebenden zu suchen. Der Passagier Jerome Plumier schließt sich der Aufgabe an.

Noch während die Beiboot-Besatzung den Eisberg erklimmt, explodiert die „Anjou“ und geht unter. Die Retter werden selbst zu Schiffbrüchigen. Doch sie werden gerettet. Jerome Plumier jedoch bleibt im Bann des Eisbergs. Immer wieder stößt er in den folgenden Monaten auf Hinweise, Merkwürdigkeiten und trifft sogar einen Überlebenden der „Anjou“ wieder.

Havarie in der Arktis

Der eiskalte Auftakt zu „Der Dämon aus dem Eis“ (OT: „Le Demon de Glace“) erinnert an die Rahmenhandlung in Mary Shelleys „Frankenstein“, als Victor Frankenstein in der Arktis von einem Schiff aufgelesen wird, um von seinem Leben zu erzählen. Und auch in Jacques Tardis fantastischer Geschichte geht es um monströse Forschungen und pervertierte Machtgelüste.

Der Verlag Schreiber & Leser vermarktet „Der Dämon aus dem Eis“ als Ergänzung zu „Adeles Abenteuern“, doch das ist gar nicht notwendig und auch nur bedingt zutreffend. Die Geschichte an sich entstand vor der ersten Adele Story, und insofern ist es nicht weiter verwunderlich, wenn die Charaktere und Elemente immer wieder in Adeles Abenteuern auftauchen. „Der Dämon aus den Eis“ ist Comic-Historie.

Der junge Jacques Tardi war bereits fasziniert von 19. Jahrhundert und fand dort auch vielfältige Einflüsse und Inspirationen. Noch nicht einmal dreißig Jahre alt, hatte Tardi 1974 mit „Adieu Brindavoine“ bereits ein Comic-Album veröffentlicht, „Rumeur sur le Ruergue“ war in Episoden bereits veröffentlicht, bevor es 1976 als Album erschien. Ebenfalls 1974 erschien „Der Dämon aus dem Eis“. Darin verarbeitet Tardi Einflüsse von Jules Verne und Gustave Doré zu einer eigenen Art von Phantastik. Insofern ist dieses Album ein Frühwerk, das bereits viele von den Qualitäten des Comic-Künstlers aufblitzen lässt.

Erste Schritte in phantastische Abenteuer

In der Edition Casterman wurde „Der Dämon aus dem Eis“ zu Beginn der 2000er neu aufgelegt und auch aktuell 2022 zum Abschluss des „Adele“-Zyklus. In deutscher Fassung hatte die Edition Moderne den „Dämon“ zu Beginn der 1990er aufgelegt. Die aktuelle Schreiber & Leser Ausgabe ist allerdings neu übersetzt.

Es mag wohl sein, dass „Der Dämon aus dem Eis“ sowohl erzählerisch als auch illustratorisch noch nicht die ganze Meisterschaft Tardis beinhaltet, aber gerade darin liegt auch ein Charme. Die Erzählung ist mit ihren sieben Kapiteln, die auch weitgehend als alleinstehende Episoden gelten könnten, noch etwas unzusammenhängend. Das mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass früher Fortsetzungsbildgeschichten leichter an Periodika zu verkaufen waren. Tatsächlich ergibt sich aber ein stimmiges Ganzes.

Was die Zeichnungen angeht, so hat Tardi seinen Stil bereits früh gefunden. Die kräftigen und kunstvoll schraffierten und schwarz-weißen Panels haben eine enorme Ausdruckskraft und immer wieder ist es verblüffend zu sehen, wie leichthändig Tardi zwischen bedrohlichen Szenarien, cartoonesquer Überzeichnung und fast realistischen Stadträumen zu wechseln versteht.

Wenn die Vorbilder durchscheinen

Dabei lässt sich die Vorliebe für Dorés zeichnerisches Werk durchaus noch aus den Seiten herauslesen. Und gerade dieses Spanungsfeld des jungen Künstlers macht die Strahlkraft dieses vermeintlich kleinen Albums aus. Als ich während der Recherche auf eine Arte-Doku über Gustav Doré stieß (auf Youtube zu sehen), äußerte darin ein Experte den Gedanken, dass der Illustrator zeitlebens selbst irgendwie auch Kind geblieben sei, weil er ja Bildergeschichten erzähle, die vor allem für Kinder gedacht sind.

Oder aber, denke ich, es ist für die Kunst notwendig sich ein naives und neugieriges – oder anders ausgedrückt, kindliches – Gemüt zu erhalten. Für mich überraschend war die Ähnlichkeit in vielen von Dorés satirischen Illustrationen zu Wilhelm Buschs Zeichnungen. Ein weiterer großer Kindskopf. Ich schweife ab. Wie immer wenn tolle Geschichten die Fantasie beflügeln.

„Der Dämon aus dem Eis“ ist eine höchst willkommene Neuauflage eines frühes fantastischen Jacques Tardi Albums, dass die Abenteuer von Madame Adele Blanc-Sec maßgeblich beeinflusst hat. Das Steampunk-Abenteuer im Geiste Jules Vernes lässt sich aber auch hinreißend als eigenständiges Werk genießen.

Comic-Wertung: 7 out of 10 stars (7 / 10)

Der Dämon aus dem Eis
OT: Le Demon des Glaces, Casterman, 2022,
Genre: Comic, Abenteuer, Phantastik
Autor & Illustrator: Jacques Tardi
Übersetzung: Resl Rebiersch
Verlag: Schreiber & Leser, Hardcover, 64 Seiten
VÖ: 01.04.2023

Der Dämon aus dem Eis“ bei Schreiber & Leser