Der ferne schöne Klang: Schallmauern

Ein mönchisches Einsiedlerdasein ist nicht gerade das, was sich die meisten Menschen unter einem erfüllten Leben vorstellen. Der Schweizer Comic-Künstler Zep macht in seinem Album „Der ferne schöne Klang“ die Probe aufs Exempel und schickt einen Mönch nach Jahrzehnten wieder in die Außenwelt. So stellt das jüngst bei Schreiber & Leser erschienene Hardcover-Album nicht die Frage nach dem Warum des Rückzugs, sondern thematisiert im Grunde andersherum die ständige Reizüberflutung. Eine leichtfüßige und berührende Pilgerreise zum Sinn des Lebens.

Der Kartäuser-Mönch Bruder Marcus lebt beinahe sein gesamtes Erwachsenenleben im Kloster. Doch nun ist William, wie Marcus‘ bürgerlicher Name lautet, nach fast 25 Jahren gezwungen die heimischen Mauern zu verlassen. Williams reiche Tante ist verstorben und hat ihn persönlich zur Testamentseröffnung bestellt.

William will von vermeintlichen Reichtümer zwar nichts wissen, aber das Kloster muss kostspielig renoviert werden. Also fügt sich William in das Unvermeidliche und reist per Bahn nach Paris. Im Zug lernt er Mery kennen, die gerade eine Krebsdiagnose erhalten hat. Die kurze Unterhaltung führt dazu, dass William Mery in Paris noch einmal besucht, als sich die Testamentseröffnung um einen Tag verschiebt und der Mönch gezwungen ist, die Zeit in der Stadt abzureißen.

Die Geschichte in „Der ferne schöne Klang“ wirkt zunächst schlicht und etwas konstruiert. Dabei weiß die fast parabelhafte Versuchsanordnung schnell zu faszinieren und Leser:innen befinden sich unmittelbar mit William auf Reisen. Ohne großes Aufheben und mit souveränem erzählerischen Können baut Comic-Künstler Zep seine Story auf und aus. Darin liegt ganz gezielt etwas sehr Kontemplatives. Das führt unweigerlich dazu, das Leser:innen ihre eigene Einstellung zum Leben hinterfragen oder zumindest mal kurz in sich gehen. Ob daraus dann ein persönlicher Erkenntnisgewinn entspringt, muss jede:r selbst beurteilen. In jedem Fall gelingt es der Geschichte auf vielen Ebenen mit schlichter Eleganz ein berührendes Leseerlebnis zu erschaffen und das ist ein Wert an sich.

2020 legte der Verlag Schreiber & Leser hierzulande Zeps hochgelobte Dystopie „The End“ auf. Nun nutzt der Verlag das Momentum und schiebt das im Original zwei Jahre früher erschienene Album „Der ferne schöne Klang“ nach, mit dem Zep einmal mehr beweist, dass er längst nicht nur auf pfiffige Cartoons festgelegt ist. Das Gesamt-Werk des 1967 geborenen Schweizer Comic-Künstlers Phillippe Chappuis alias Zep ist umfangreich und seit einigen Jahren auch sehr vielschichtig. Bekannt wurde Zep mit den Cartoons und Geschichten um den jungen Racker Titeuf, die er seit 1992 zeichnet und schreibt. Hierzulande wird Titeuf bei Carlsen Comics verlegt. 2001 bekam der Bengel eine TV-Serie, 2011 einen Kinofilm verpasst.

Außerdem hat Zep weitere Serien am Start, für die er zum Teil „nur“ das Szenario beisteuert und regelmäßig veröffentlich Zep auch einzelne, abgeschlossene Alben. Die kommen in Frankreich zumeist im Delcourt Verlag heraus und einiges davon ist in deutscher Fassung bei Splitter erschienen. Seit 2013 hat sich Zep immer wieder einem realistischeren Zeichenstil zugewendet. Arbeiten in diesem Stil erscheinen seit „Une Histoire Hommes“ im Verlag Rue de Sèvres und hierzulande glücklicherweise bei Schreiber & Leser. Dazu gehört neben „Paris 2119“ und „The End“ eben auch „Der ferne schöne Klang“.

„Ich bin weder ein Gefangener noch ein Geflüchteter.“ (William)

„Der ferne schöne Klang“ besticht also durch realistische Zeichnungen, die kunstvoll und bisweilen filigran mit Schraffuren und Schattierungen arbeiten. Die einzelnen Panels sind randlos gehalten, dafür aber in unterschiedlichen gedeckten Farben monochromen grundiert. Das sorgt für eine gewisse Einteilung der Erzählung, die aber eher intuitiv und nach Sinnabschnitten erfolgt, mal geht es um einen Gedankengang, mal um eine Szene, mal ändert sich in der äußeren Handlung der Lichtwert. Das sorgt für eine zugleich beruhigende, „leise“ Lenkung des Leseflusses.

Die schlichte Farbigkeit unterstreicht in „Der schöne ferne Klang“ nicht nur dem asketischen Lebensstil des Protagonisten, sondern hebt auch die bisweilen sehr filigran ausgearbeiteten Porträts und Mimiken heraus. Dabei bleibt die graphische Erzählung immer in der Wahrnehmung von William, seinen spärlichen Gedanken und Ausführungen und seiner Weltsicht. Am Ende gibt es dann noch einen zenartigen Twist – oder wenn Leser:innen lieber in der christlichen Geisteswelt bleiben wollen: eine mystische Erkenntnis im Sinne Meister Eckhardts.

Das Setting ist stimmig und gut recherchiert. An der Wahl des Kartäuser-Ordens, der den meisten wohl nur wegen des hochprozentigen „Chartreuse“-Kräuterlikör geläufig ist, und des Klosters „La Valsainte“ zeigt sich, dass Zep hier nicht nur eine esotherische Modeerscheinung beackert, sondern sich tiefgehend mit der Abgewandheit von der modernen Welt auseinandergesetzt hat.

Der Kartäuserorden ist mit den Trappisten der einzige christliche Orden, der sich gegenwärtig noch den mittelalterlichen Idealen eines kontemplativen Lebens verschrieben hat und nur Männer zulässt. Zudem ist die Kartause „La Valsainte“ das einzige noch existente Kartäuser-Kloster in der Schweiz und im Jahr 2000 brachen Teile der Klostermauer zusammen, was in „Der schöne ferne Klang“ ja aufgenommen wird und dazu führt, dass William sich überhaupt auf den Weg macht.

Wer aktuell keine Ambitionen hat, den Jakobsweg zur Selbsterkenntnis zu erwandern, kann sich mit Bruder Marcus auf den Weg machen. Der Schweizer Comic-Künstler Zep meditiert in dem Album „Der ferne schöne Klang“ über das, was im Leben wichtig ist: Reichtum, Liebe, Macht und die Fähigkeit ganz bei sich selbst zu sein. Eine starke, klare Geschichte, die ebenso ausdrucksstark illustriert ist.

Comic-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

Der ferne schöne Klang
OT: Un bruit étrange et beau, Rue de Sèvres, 2016
Genre: Comic, Graphic Novel,
Autor & Zeichner: Zep
Übersetzung: Claudia Sandberg, mit Ömür Gül
Verlag: Schreiber & Leser, Hardcover, 80 Seiten
ISBN: 978-3965820609
VÖ: 06.04.2021

Kartäuser-Orden bei wikipedia

Der ferne schöne Klang bei Schreiber & Leser