Tony Conrad – Completely In The Present: Spieltrieb

Dafür gehe ich ja ins Kino: Damit ich Neues entdecke! Damit ich Einblicke in andere Leben, Realitäten, Fantasien und Welten erhaschen kann und hinterher beglückt und inspiriert wieder herauskomme. So geschehen bei der grandiosen Doku „Tony Conrad – Completely In The Present”. Ehrlicher Weise muss ich gestehen, dass dessen Werk bislang an mir vorbeigegangen ist, was insofern verwundet, weil Conrad unter anderem als Vorreiter der Drone Music gilt, die bei mir schon einen erheblichen Anteil der Plattensammlung ausmacht. Aber bevor ich hier total abschweife, zurück zum Film:

Denn richtiger Weise muss ich ebenfalls gestehen, dass ich Tyler Hubbys Doku gar nicht im Kino gesehen habe, weshalb ich auch nicht beglückt aus dem Saaldunkel aufgetaucht bin. Ideal und Wirklichkeit dieser Filmsichtung passen aber so wunderbar zu dem unprätentiösen Künstler Tony Conrad, der sich immer geweigert hat, seine Kunst zu professionalisieren. Dabei hat der studierte Mathematiker und passionierte Violinist nicht nur den musikalischen Minimalismus in den 1960ern mitentwickelt, sondern auch maßgeblich zur Gründung von Velvet Underground beigetragen, die in seinem Appartment gegründet wurden. Weil einer seiner Mitmusiker die Tapes aus den 60ern nicht rausrückte, wurde Tony Conrads musikalischer Einfluss auch erst in den 90ern wirklich gewürdigt, als man seine Musik auch auf einem Label veröffentlichte.

Aber zwischendurch hat Tony Conrad mal eben einflussreiche Experimentalfilme gedreht, unter anderem, um dem schnöseligen Andy Warhol eins auszuwischen. Und dann befand der Genius Conrad, es sei Zeit, seine Fähigkeiten in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen: er entdeckte – auch um seine Familie zu ernähren- die universitäre Lehre für sich und wurde zu einem unkonventionellen Professor (mad professor ist zwar plakativer, stimmt aber ganz und gar nicht). Dabei hat Tony Conrad auch das Konzept eines Bürgerfernsehens begründet, das heute als Vorläufer des „Offenen Kanals“ gilt.

In seinem Dokumentardebüt zeichnet der erfahrene Filmeditor Tyler Hubby ein facettenreiches Bild dieses umtriebigen Künstlers. Hubby macht in seinem Regie-Statement gar keinen Hehl daraus, dass ihn Tony Conrad seit Studientagen fasziniert und inspiriert hat. Daher hat Hubby auch immer wieder die Performances, Aktivitäten und Spielereien des Künstlers gefilmt, dokumentiert und nun, kurz vor Conrads Tod im Jahr 2016, zu einem wunderbar assoziativen Film-Dokument zusammengefügt.

„History is like Music, completely in the Present.“ (Tony Conrad)

Hier zeigt sich ein spielerischer, unabhängiger Geist, der die Herausforderung liebt, seine Freiheiten hoch schätzt und jemand, der Dinge immer wieder neu denkt und so auf seine charmante, „do it yourself“-Art auch den Status Quo philosophisch hinterfragt. Ein bisschen sind sowohl Ansatz als auch Doku vergleichbar mit dem musikalischen Bemühen des Schotten Bill Drummond in „Imagine Waking Up tomorrow and all the Music has disappeared“. By the way – aber das ist ein deutschens Kinophänomen: Am 11. Januar 2018 startet nach eine weitere Künstler-Doku über Julian Schnabel in den Kinos. Würde man beide Filme wie in der legendären MTV-Animationsserie „Celebrity Death Match“ im Ring gegeneinander antreten lassen, der Sieger stünde fest, einfach weil er „komplett in der Gegenwart“ ist.

In Tyler Hubbys faszinierender und schillernder Doku gibt es haufenweise plakative Sätze und zitierfähige Sprüche, aber zwei Lobeshymnen blieben dann doch hängen. Auf die Frage, warum er ein Tony Conrad Kunstwerk kaufen wolle, antwortete ein Museums-Kurator aus Los Angeles, wiel man die Geschichte der amerikanischen Experimentalkunst nicht ohne Tony Conrad erzählen könne. Darauf die Gegenfrage, warum das Werk denn dann so günstig sei?

Ein weiterer Kommentar macht deutlich, wie sehr sich Tony Conrad als Person im Untergrund und außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung gehalten hat: „Erst gab es Tony Corad als Musiker, Tony Conrad als Filmmacher, Conrad als Performance-Artist. Nun ist das alles kollabiert und es gibt nur noch Tony Conrad den Künstler.“ Und der ist für Freunde des Experimentellen eine grandiose Inspirationsquelle. Seine Ansatz, „zu lehren, Dinge nicht zu tun“ ist ebenso furios wie sein musikalischer Impetus „Die Autorität der harmonischen Struktur zu weiten“.

Die eindrückliche Doku, die wunderbar mit Sinnzusammenhängen arbeitet, und nicht so auf chronologische Stringenz bedacht ist, ist viel mehr als eine Hommage. Dieser schillernder Film macht dem Blick weit und lässt Gedanken und Ideen fliegen. Mit Tony Conrad ist nicht nur eine Person zu erleben, sondern eine ganze Welt zu entdecken.

Film-Wertung:9 out of 10 stars (9 / 10)

Tony Conrad – Completely in The Present
Genre: Doku, Biografie, Musik, Kunst
Länge: 96 Minuten, USA, 2016
Regie: Tyler Hubby
Mitwirkende: Tony Conrad, John Cale,
FSK: ab 12 Jahren
Vertreib Edition Salzgeber
Kinostart: 11.01.2018

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