N – Der Wahn der Vernunft: Ein-Mann-Orchester in Afrika

Mit seinem epischen Essayfilm „N-Der Wahn der Vernunft“ spürt der niederländische Filmmacher Peter Krüger nicht nur dem fast vergessenen Forscher Raymond Borremans nach, sondern begibt sich auf eine ebenso faszinierende wie poetische Reise durch Westafrika. Nachdem das filmische Kunstwerk 2014 auf der Berlinale gezeigt wurde ein Jahr später bei uns in die Kinos kam ist „N- Der Wahn der Vernunft“ nun glücklicher Weise auch für den Hausgebrauch erschienen. Eine ebenso eigenwillige wie lohnenswerte Beschäftigung mit Afrika.

Man muss den Franzosen Raymond Borremans (1906 – 1988), nicht kennen, in Peter Krügers Film lernt man den erstaunlichen Menschen schließlich kennen. In der deutschen Wikipedia findet sich noch nicht einmal ein Eintrag zu dem französischen Sänger, Globetrotter und Enzyklopädisten, der in den 1920er Jahren Europa verließ um nach Afrika zu gehen. Nachdem er seine Wahlheimat in der Elfenbeinküste gefunden hatte, zog er eine Zeit lang als mobiles Kino über das Land, bevor er beschloss, ein ausführliches Nachschlagewerk für die Elfenbeinküste zu verfassen. Bis zu seinem Tod kam er aber nur bis zu dem Buchstaben N.

„Wer von uns besucht den anderen im Traum?“

Dem filmischen Essay von Peter Krüger dient das Borremansche Leben freilich nur als Ausgangspunkt für einen Streifzug durch das heutige West-Afrika, der auch einem großen kulturellen Missverständnis zwischen Europa und Afrika nachspürt. So wandelt Borremans Geist als Erzähler durch sein Leben und durch seine große Liebe Afrika. Der Kontinent allerdings bleibt nicht sprachlos, sondern führt in Gestalt einer afrikanischen Frau einen Dialog mit Borremans, begleitet ihn auf seinen Streifzügen und fügt seiner Welt- und Afrikasicht andere Aspekte hinzu.

Erzählerisch ist das mehr als fesselnd, wenn die Stimme Borremans, faszinierend altersgebrechlich gesprochen von dem großen französischen Schauspieler Micheal Lonsdale („DerSchakal“, „Von Menschen und Göttern“, „Das Ende ist erst der Anfang“) fast wie in einer Szene aus „Apocalypse Now –Redux“ durch schimmernde vorhänge auf das Sterbebett eines alten Mannes zuschwebt, nur um von da aus seine Erinnerungsreise zu beginnen.

Peter Krüger hat acht Jahre an diesem großartigen Film-Kunstwerk gearbeitet und es gelingt ihm auf so vielen Ebenen zusammenhängeherzustellen, vielschichtige aktuelle und historische Aspekte einzuflechten und so dem Wesen Afrikas und seiner Menschen auf sehr persönliche und auch mystische Weise sehr sehr nahe zu kommen. „N- Der Wahn der Vernunft“ ist aber auch das Ergebnis einer kreativen internationalen Kooperation von Meistern ihres Faches.

„Manchmal ähnelt das Gedächtnis einem Schrottplatz.“

Kameramann Rimvydas Leipus („Korridor“, „Khadak“), und das ist in einem visuellen Medium ja immer das Wesentliche, findet tolle Bilder um die Reise von Borremans Geist zu inszenieren. Das geht von ländliche Szenen, in denen beispielsweise von der Flussgöttin des Niger erzählt wird, oder Filmvorführer über die Dörfer tingeln, über stimmungsvolle Luftaufnahmen, die Gebäude und Straßenzüge einfangen, oder kurze, aber intensive Begegnungen mit Menschen bis hin zu urbanem Gewusel und der Bebilderung des Bürgerkrieges, der die Elfenbeinküste nach dem Militärputsch von 1999 jahrelang Gewalt und Schrecken erzeugte. Dabei war die 1960 von der Kolonialmacht Frankreich unabhängig gewordene Elfenbeinküste zu Borremans Lebzeiten unter der Regentschaft von Präsident Houphouët-Boigny ein scheinbar stabiles und freundliches Land gewesen.

Aber auch hier gelingt es dem aus Nigeria stammenden Schriftsteller Ben Okri („die hungrige Straße“), der heute in London lebt, und in „N – Der Wahn der Vernunft“ für die Texte zuständig ist, eine differenzierte Betrachtung aufzubauen, die sich im Dialog von Borremans und der afrikanischen Frau entwickelt. Hier trifft die nostalgische, rationaler und auch naiver europäischer Sicht auf den so fremden schwarzen Kontinent auf eine traditionsbewusste, mystische, stolze und selbstbewusste afrikanische Sichtweise, die zumindest bemerkt, dass sie von den Europäern verkannt wird, die so lange Zeit die Geschicke des Kontinents gesteuert und beherrscht haben.

„Etwas benennen, bedeutet immer auch die Gefahr es zu verlieren.“

Dieses kulturelle Missverständnis überhaupt zu thematisieren ist eine Herkulesaufgabe, die dem philosophisch ausgebildeten Filmmacher Peter Krüger jedoch nachhaltig und nachwirkend gelingt. Dazu tragen auch die kongeniale Filmmusik von Walter Hus und die Lieder von Fatouma Diawara bei, denn Sie machen es dem Zuschauer leicht, sich auch emotional in die beiden filmischen Reiseleiter hineinzuversetzen. Es ist an sich schon ein schöner Trick, als Filmprämisse ausgerechnet den Geist des scheinbar so rationalen Enzyklopädisten auf die Reise zu schicken, denn Geister scheinen in Afrika allgegenwärtig, nur dass die Europäer sie ignorieren. Und so schließt sich der Kreis der essayistischen Betrachtungen über das eigenwillige und auch größenwahnsinnige Unterfangen Borremans, den Kontinent ganz in althergebrachter Forscher- und Entdeckermanier zu beschreiben, mit der Erkenntnis, dass man auch verstehen sollte, was man beschreibt. Und Borremans tanzt an der Küste.

Filmische Essays ( z.B. „Der Schatten des Körpers des Kameramannes“, „Heart of a Dog“, „Overgames“) sind eine hybride Kunstform, die ebenso spielerisch wie assoziativ zwischen Spielfilm und Dokumentarischem pendelt, zeit- und realitätsebenen vermengt und so neue Aspekte und Sichtweisen ermöglicht. Für ein breites Publikum ist diese Art des Filmemachens sicher nur schwer zugänglich, aber wer sich mit „N- Der Wahn der Vernunft“ auf die Reise macht, wird Afrika (zumindest einen geographisch kleinen Teil davon) auf eine neue, spannende Art und Weise kennenlernen. Etwas, was der leidgeprüfte Kontinent nötiger denn je zu haben scheint.

Ausgehend von dem Leben und Wirken des französischen Globetrotters Raymond Borremans hat der niederländische Filmmacher Peter Krüger mit „N –Der Wahn der Vernunft“ einen der schönsten, poetischsten und klügsten Filme der letzten Jahre gemacht. Und wichtig ist „N“ obendrein, denn ohne ein besseres Verständnis und ein anderes Verhältnis zu Afrika, werden sich die globalen Probleme nicht lösen lassen.

Film-Wertung:9 out of 10 stars (9 / 10)

N – Der Wahn der Vernunft
OT: N – The Madness of Reason
Genre: Essayfilm, Biografie, Doku, Geographie
Länge: 101 Minuten, NL, 2014, OmU
Regie: Peter Krüger
Texte: Ben Okri
Erzähler: Michael Lonsdale
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Realfiction, goodMovies
Kinostart: 26.03.2015
DVD-VÖ: 26.05.2017