Ikarus: Die Macht des Fliegens

Ikarus-Cover-vorschauBei Schreiber & Leser ist  als deutsche Erstausgabe gerade ein erstaunlicher Manga erschienen: „Ikarus“ wurde 1997 in Japan erstmals als Fortsetzung in einem Magazin veröffentlicht, fand bei der Leserschaft allerdings nicht die Resonanz, die man aufgrund des namhaften Kreativ-Duos erwarten könnte. Der „westlichste“ aller japanischen Comiczeichner, Jiro Taniguchi, brachte ein Science-Fiction-Szenario von  Jean Giraud alias Moebius zu Papier. Die nun erschienen Hardcover-Ausgabe ist eine kleine Perle für Genießer, aber auch die Geschichte eines Missverständnisses verschiedener Comic-Kulturen.

Die Story ist schnell auf den Punkt gebracht:  In einem zukünftigen, diktatorisch regierten Japan wird ein Kind geboren, das fliegen kann. Die Staatsmacht interniert das seltsame Wesen zu Forschungszwecken und über Jahrzehnte wird Ikaru von der Welt abgeschirmt und kommt nicht aus seinem Käfig heraus. Doch der Junge entwickelt sich, entdeckt einen Freiheitsdrang, der immer stärker wird, und seine Gefühle, während die Forscher noch darüber sinnieren, wie sich der fliegende Junge als Waffe einsetzen lässt.

Ikarus-leseprobe520-2Über 12 Szenen und rund 300 Seiten entwickelt der japanische Mangaka Jiro Tainiguchi die Geschichte des fliegenden Jungen zu einer recht typischen, eher einfachen Sci-Fi-Geschichte, die im Nachhinein gelesen einige Parallelen zu Katsuhiro Otomos großem Sci-Fi-Opus „Akira“ aufweist. Dennoch hat die Geschichte ihren ganz eigenen Drive, was vor allem an Taniguchis Stil und Erzählweise liegt, die sich auch an Moebius selbst orientiert.

Gelesen wird wie bei japanischen Comics üblich übrigens von hinten nach vorne, also von rechts nach links. Das mag den westlichen Leser von Graphic Novels zunächst irritieren, legt sich aber bald.  Warum „Ikarus“ seinerzeit allerdings nicht so erfolgreich war und nach eben jenen in dieser Ausgabe zusammengefassten zwölf Kapiteln ein vorzeitiges Ende fand, erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte. Die ist in dem vorliegenden Band durch ein Interview mit dem 2012 verstorbenen französischen Comic-Großmeister Moebius aufgearbeitet. Das Interview führte Numa Sadol 2003 nachdem „Ikarus“ auch als  Album veröffentlicht war und so einige Resonanz bekam.

Moebius sagt selbst, er sei zeitweise besessen gewesen von der Geschichte des „Ikarus“, der nicht umsonst nach der griechischen Sagengestalt benannt ist, die beim Fliegen zu nahe an die Sonne gerät und daraufhin tödlich stürzt. Zusammen mit Jean Annastay habe er um die unschuldige Figur, die in die Fänge der Macht gerät eine ausufernde Geschichte von Revolution und sexuellen Eskapaden konstruiert, die weit mehr als 10 000 Comic-Seiten umfasste. Der Plan war, dieses Szenario an einen japanischen Verlag zu verkaufen, der das entsprechend in Serienform umsetzen sollte. In der Manga-Kultur sind endlos lange Serien üblich und erfolgreich.

ikarus-146Doch so richtig zündete der Plan nicht. Der japanische Verlag verpflichtete Jiro Taniguchi als Zeichner und platzierte die Story in einem Magazin, statt eine eigene Serie zu starten. Taniguchi seinerseits bearbeitete das Szenario noch weiter, um es in üblichere Manga-Konventionen zu bringen. Letztendlich wurde die fantastische Ausgangsidee dadurch soweit reduziert, dass sie sich in dem Magazin nicht behaupten konnte. Moebius selbst schätzt Taniguchis Arbeit an „Ikartus“ aber.

Die jähe Landung  des „Ikarus“ liegt vielleicht darin begründet, dass Moebius in seiner „Ikarus“-Ekstase, die japanischen Mangas zwar als Veröffentlichungsmedium verstand, aber immer noch in europäischen, also seinerzeit vor allem französisch-belgischen, Comic-Kunstbegriffen und Alben dachte. Die soziale Sprengkraft und die psychischen und exzessiven Eskapaden der angedachten Story ließen sich nicht so einfach in die japanische Kultur und in das Massenmedium Sci-Fi-Manga übertragen. Der japanische Verlag seinerseits mag gehofft haben, dass allein der Ruf des großen Moebius schon ausreicht, der Story  ihre Aufmerksamkeit zu verschaffen. Aber all das bleibt Vermutung und die von Meobius angerissene epische Story bleibt nur ein Fantasiegebilde.

Was hingegen physisch vorliegt ist die Geschichte  vom Erwachen des Ikaru, wenn man so will eine Coming of Age Story, die auch einfach gut gezeichnet ist und sowohl für Fans von Jiro Tainiguchi als auch solche von Jean Giraud ziemlich interessant sein dürfte. Ein Fundstück der Comic-Geschichte, das seinen eigenen Platz im Regal verdient.

Comic-Wertung:7.5 out of 10 stars (7,5 / 10)

Ikarus-CoverIkarus
Genre: Graphic Novel, Sci-Fi, Comic,
Szenario: Moebius
Zeichnung: Jiro Taniguchi
ISBN: 978-3-946337-06-5
Verlag: Schreiber und Leser, gebunden, 312 Seiten