Der Junge und die Welt: Eine Gesellschaftsparabel

An seinem Zeichentrickfilm „Der Junge und die Welt“ hat der brasilianische Künstler Alê Abreu fünf Jahre lang gearbeitet. Die Mühe hat sich gelohnt: Die wunderbare Reise eines kleinen Jungen auf der Suche nach seinem Vater ist nicht nur eine schöne Geschichte, sondern auch ein klug verpacktes Nachdenken über den Lauf der Welt.  Für ganz keine Zuschauer ist „Der Junge und die Welt“ dann aber doch nicht gedacht.

Ein kleiner Junge lebt in Brasilien auf dem Land. Als sein Vater das kleine Dorf verlassen muss, um sich Arbeit zu suchen,  fehlt er dem Kind so sehr, dass sich der Junge auch aufmacht, um seinen Vater zu suchen. Unterwegs trifft er einen alten Landarbeiter, den er auf die Baumwollplantagen begleitet. Dann führt die Reise den Jungen in eine Textilfabrik und schließlich mit einem Fabrikarbeiter in den verwirrenden Kosmos der Großstadt, Aber seinen Vater hat er noch nicht gefunden.

Man darf sich von der kindlichen Perspektive in Alê Abreus „Der Junge und die Welt (OT: „O Menino e o Mundo“) ebenso wenig täuschen lassen wie von der farbenfrohen Umsetzung der scheinbar simplen Geschichte. Indem der Künstler die Reise des Jungen mit der Produktionskette der Textilindustrie verknüpft wird aus der netten Abenteuergeschichte auch eine engagierte Gesellschaftskritik. Die macht nicht an der Landesgrenze Brasiliens als Rohstoff-Lieferant halt, sondern weiß auch auf fantastische Weise die Industrieländer mit einzubeziehen.

Dabei kommt „Der Junge und die Welt“ ohne Sprache aus. Die wenigen Dialoge sind eher symbolisch und wurden in rückwarts aufgenommenem Portugiesisch unkenntlich gemacht, weil es um die Situation und nicht um die Worte geht. Stattdessen sorgt die Musik für eine manchmal folkloristische, gelegentlich experimentelle Sounduntermalung. Die Töne werden dabei als farbige Blasen in die Welt entlassen und sorgen im Kosmos deskleinen Jungen immer wieder für Trost und Orientierung.

Auch formal weiß Filmmachers Alê Abreu einen Gegenpol zum zeitgenössischen, weit-verbreiteten CGI-Look der großen Animationsstudios zu setzen. Der Junge und die übrigen Charaktere sind kaum mehr als Strichmännchen mit ausdrucksstarkem Gesicht und die Umgebung setzt sich anfangs aus einigen schlichten bunten Strichen zusammen. Aber die Umgebung wird während der Reise zunehmend komplexer und stilistisch auch technischer. Anfangs sorgen pastellkreiden für eine urwüchsige ländliche und kindliche Idylle. Je weiter der Weg in Richtung Stadt geht, desto häufiger schleichen sich futuristisch und dadaistisch anmutende Collagen in die Bildwelt von „Der Junge und die Welt“.

Aber das Prinzip der Collage wird soweit auf die Spitze getrieben, dass auch einige wenige aber intensive Filmsequenzen von Umweltzerstörungen eingebaut werden. Auch wird, wenn auch nur kurz, eindrücklich Polizeigewalt gegen Demonstranten visualisiert. Darauf sollte man vorbereitet sein, wenn man den Film mit jungen Zuschauern besuchen will. Die Darstellung der Maschinen und der Fahrzeuge und Schiffe als Tiere, die man in ihrer collagenhaften Ausprägung sogleich erkennt ist beeindruckend.

Am Ende ist Alê Abreus „Der Junge und die Welt“ ein sehr eigener Film geworden, dem es mit seiner stilistischen Vielfalt und seinen vielschichtigen Deutungen gelingt, nicht nur ein sehr außergewöhnliches sinnliches Filmerlebnis zu schaffen, sondern auch  ein politisches Statement zu formulieren.

Film-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

Der Junge und die Welt
OT: „O Menino e o Mundo“
Genre: Zeichentrick, Abenteuer, Umwelt,
Länge: 79 Minuten, BR, 2013
Regie: Alê Abreu
FSK: ab 0 Jahren
Vertrieb: Grandfilm
Kinostart: 17.12.2015