Le Havre: Der Albino in der Familie

le-havre_stills_04_miguel_wilmsAki Kaurismäki hat einen neuen Film gemacht: Nach jahrelanger Leinwandabstinenz und wiederholtem Hadern mit dem eigenen Filmschaffen scheint „Le Havre“ nun ein Befreiungsschlag: Das Sozialmärchen ist so witzig und engagiert wie lange nicht mehr. Kaurismäki bleibt einer der wichtigsten Filmemacher unserer Tage. „Le Havre“ ist wunderbar.

Den Tiefpunkt seines Lebens hat Marcel Marx (André Wilms) längst hinter sich. Seine Frau fischte den ehemaligen Bohéme einst aus der Gosse. Seitdem fristet das Ehepaar ein bescheidenes Leben in einem alten Viertel von Le Havre. Während Marcel den Lebensunterhalt als Schuhputzer verdient, sorgt Arletty (Kati Outinen) für den Haushalt. Dann wird sie schwer krank und die Ärzte geben ihr noch einige Wochen.

le-havre_stills_03_wilms_outinenIhrem Mann sagt sie davon allerdings nichts und so geht Marcel mit stoischem Gleichmut weiter seinem Tagesgeschäft nach, bis er eines Tages einen afrikanischen Flüchtlingsjungen aus dem Hafenbecken fischt. Idrissa (Blondine Miguel) ist eigentlich auf dem Weg nach London zu seiner Mutter, doch der Frachtcontainer mit den Flüchtlingen wurde entdeckt und Idrissa ist geflohen.

Ohne zu zögern hilft der alte Romantiker dem Jungen bei seinem Vorhaben, doch die Polizei, allen voran Kommissar Monet (Jean-Pierre Darussin), ist dem illegalen Einwanderer dicht auf den Fersen. Doch unter Mithilfe des ganzen Viertels rückt Idrissas Weiterreise nach England in greifbare Nähe.

le-havre_stills_09_darrousin_wilms_miguelDer finnische Regisseur Aki Kaurismäki dreht keine Action-Filme, sondern leise und ruhige Filme, die die kleinen Dramen des Lebens mit filmischer Schwermut abbilden. Was anderen als Stoff für ein solides Drama gereicht wird bei dem finnischen Lakoniker diesmal zu einer märchenhaft sozialromantischen Parabel. In seinem ersten Film seit fünf Jahren begibt sich Kaurismäki, der auch das Drehbuch, schrieb ganz in eine Welt, die aus Zeit und Raum gefallen scheint, in eine Gesellschaft, in der das uneigennützig Gute einen festen Platz hat.

Mit ruhigen und wunderschönen Bildern, die gelegentlich an Stilleben erinnern, entwickelt Kaurismäki seine Geschichte, in der führ ihn so typischen Weise mit wenig Worten und unaufgeregten Charakteren. Das mag mancher für altbacken und unzeitgemäß halten, aber der lakonische Stil des finnischen Regisseur funktioniert auch in „Le Havre“ mit hypnotischer Sogkraft. Hinzu kommt, dass Kaurismäki lange nicht mehr so witzig und so engagiert war.

le-havre_stills_02_wilms_darroussinDie Hauptfigur Marcel ist von einer Energie und Tatkraft, die für Kaurismäki Protagonisten eher untypisch ist. Marcel ist dem Ideal der Menschlichkeit verbunden und der junge Flüchtling braucht unzweifelhaft Beistand. Mit zielstrebiger Ernsthaftigkeit, setzt Marcel alle Hebel in Bewegung, um die Familie des Jungen ausfindig zu machen und eine Überfahrt zu organisieren. Dabei legt dieser entspannte Antiheld einen trockenen und stoischen Humor an den Tag. Verausgaben müssen sich die Schauspieler bei Kaurismäki allerdings noch immer nicht, was zählt findet unter der Oberfläche statt, die stets undurchschaubar bleibt.

le-havre_stills_01_wilms_miguel„Le Havre“ zelebriert in einer globalisierten Welt die Oase einer funktionierenden Gemeinschaft, die zwar ihre kleinen Konflikte hat, aber ebenso einen großen Zusammenhalt. Der vermeintliche Feind, verkörpert von Kommissar Monet, stellt sich dabei als geheimer Verbündeter heraus, der allerdings auch seiner Pflicht genügen muss. Die Grenzen zwischen richtig und falsch sind auch in Kaurismäkis heiler „Le Havre“-Welt nicht so eindeutig wie sie scheinen, was zu wunderbaren Szenen und zu großartigen Dialogen mit hintergründigem Humor führt. Den Trailer zu „Le Havre“ findet ihr in den Taschengeld-Tipps # 36/2011.

Fazit: Mit seinem neuen Film „Le Havre“ kehrt der finnische Filmemacher Aki Kaurismäki nach jahrelanger Abstinenz auf die Leinwand zurück und führt uns eindrucksvoll vor, was uns Filmbegeisterten zwischenzeitlich gefehlt hat: Der Mut zum Märchen. „Le Havre“ ist wunderschön und weit größer als das Leben selbst.

Film-Wertung: 9 out of 10 stars (9 / 10)

le-havre_artwork_plakat_a4„Le Havre“
OT: Le Havre
Genre: Drama, Komödie
Regie: Aki Kaurismäki
Darsteller: André Wilms, Kati Outinen, Blondin Miguel, Jean-Pierre Darussin
Länge: 93  Min., F, 2010
Vertrieb: Pandora Film
FSK: ohne Altersbeschränkung
Kinostart: 08.09.2011