Das Brachland im Kopf beackern

Labyrinth_der_Woerter_2Es gehört schon eine sturköpfige Beharrlichkeit dazu, mit schöner Regelmäßigkeit ein Ehrenmal für Kriegsgefallene um den Namen des vermeintlich gefallenen Vaters zu ergänzen. Der Provinzpolizist reagiert nur mit entnervtem Drohen. Germain ist zufrieden und macht sich wieder vom Acker. Es sind die Details, die „Das Labyrinth der Wörter“ so lebendig machen. Ab heute in deutschen Kinos.

Das ist schon ein komischer Typ, dieser Germain Chaze (Gérard Depardieu). Eine Urgewalt von einem Kerl und trotzdem herzensgut. Dabei hätte er allerlei Grund, mit seinem Leben unzufrieden zu sein: Seine verwirrte, verbitterte Mutter hat den inzwischen Fünfzigjährigen vor Jahrzehnten rausgeschmissen und will nichts von ihm wissen. Seither lebt Germain in einem Wohnwagen in ihrem Garten, spricht mit der Katze und dem Gemüse, dessen Anbau die Mutter nach Kräften sabotiert, sobald der Hilfsarbeiter mal wieder was zu tun hat. Doch seine Mutter allein zu lassen, kommt ihm nicht in den Sinn.

Germain ist nicht dümmer als ihr, außerdem ist er viel netter.

Labyrinth_der_Woerter_1Dann kommt noch hinzu, dass Germain kaum lesen und rechnen kann. Immer wieder wird er um den verdienten Lohn betrogen, merkt es aber zu spät. Und obwohl er in der französischen Kleinstadt durchaus beliebt ist, wird der Ungebildete auch regelmäßig zur Zielscheibe des Spotts. Das wurmt den scheinbar Einfältigen nicht weiter, entweder, weil er es nicht bemerkt, oder weil es ihm in seinem Fatalismus egal ist. Dass er zeitlebens von seiner Mutter für nichtsnutzig gehalten wird, verletzt ihn hingegen zutiefst.

Labyrinth_der_Woerter_9Wenn es sich einrichten lässt, verbringt Germain seine Mittagspause im Stadtpark und beobachtet die Tauben. Eines Tages trifft er dort auf eine zierliche alte Dame, mit der er ins Gespräch kommt. Magueritte (Gisèle Casadeus) verbringt hier lesend ihre Zeit außerhalb des Altenheims und beobachtet ebenfalls gerne die Tauben. Maueritte beginnt Germain vorzulesen und aus dem zufälligen Treffen wird bald ein regelmäßiger Termin und eine tiefe Freundschaft. Als Maguerittes Augenlicht langsam schwindet, beginnen sich die Rollen zu vertauschen.

„Das Labyrinth der Wörter“ ist ein erstaunlicher Film. Erstaunlich deshalb, weil er trotz der märchenhaften Story mit Hang zur Schmonzette, die auf dem gleichnamigen Bestseller von Marie-Sabine Roger beruht, mit unglaublicher Lebendigkeit und teilweise anarchischem Slapstik rüberkommt, ohne dabei die subtile Gratwanderung zwischen Drama und Komödie überzustrapazieren. Die Geschichte mag an einigen Stellen etwas hapern, aber das fällt nicht weiter ins Gewicht.

Eine Stadt ohne Tauben? Sowas gibt’s nicht.

Labyrinth_der_Woerter_3Im Wesentlichen ist dies ein Verdienst der beiden grandiosen Hauptdarsteller, die in ihrer Unterschiedlichkeit kaum perfekter hätten besetzt sein können. Das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Kulturen ist unglaublich anzuschauen. Depardieu entwickelt auf der Leinwand ein enormes Charisma, das wohl mit Alter und Leibesfülle wächst und keinen Augenblick hat man das Gefühl, da würde einer nur spielen.

Wenn Germain gräbt, riecht es im Kino nach Erde, wenn er zu lesen versucht, stammelt man mit. Mag sein, das die Synchronisation der archaischen Urgewalt des Gerard Depardieu die Direktheit mindert, wie dies zwangsweise jede Synchronstimme tut, die Präsenz bleibt.

Ich kann mir nur gut merken, was ich höre.

Labyrinth_der_Woerter_6Doch dies allein ist nicht das Geheimnis von Jean Beckers jüngstem Film. Becker, der seine Karriere als Regisseur Anfang der Sechziger Jahre mit Belmondo-Filmen begann („Sie nannten ihn Rocca“, „Der Boss hat sich was ausgedacht“,„Der Schlaufuchs“), hat im Laufe der Jahre ein Händchen für proletarische und kleinstädtische Milieus entwickelt. Auch wenn in „Das Labyrinth der Wörter“ einige der Figuren überzeichnet wirken, so sind sie doch authentisch und wahrhaftig. Gerade aus dieser Wahrhaftigkeit ergeben sich wunderbare Details, Kleinigkeiten, die den Film so überraschend gelingen lassen. Und dann haut der 78-jährige Regisseur unvermittelt noch einige von Germains Hirngespinsten raus.

Letztlich geht es auch gar nicht so sehr um das Lesen lernen, sondern darum, dass sich ein Mensch (auch spät) entwickelt, ohne sich selbst zu verleugnen. Es geht um Freundschaft, Heimat und Loyalität und bei aller Menschenfreundlichkeit, es geht auch darum, sich nicht mehr übers Ohr hauen zu lassen.

Fazit: Jean Beckers „Das Labyrinth der Wörter“ ist ein schöner, beschwingter Film, der neben einem überirdischen Gérard Depardieu noch eine subtil kauzige Milieu-Studie zu bieten hat, die vor Lebendigkeit nur so strotzt.

Film-Wertung: 7.5 out of 10 stars (7,5 / 10)

Labyrinth_der_Woerter_PlakatDas Labyrinth der Wörter
OT: La tête en friche
Genre: Komödie, Drama, F 2010
Länge: 82 min.
Regie: Jean Becker
Darsteller: Gérard Depardieu, Gisèle Casadesus,
Vertrieb: Concorde
FSK: ohne Altersbeschränkung
Kinostart: 06.01.2011
DVD- & Blu-ray-VÖ: 09.06.2011

2 Kommentare

Marta 2011/01/11

Es ist eine sehr schöne und entzückende Geschichte. Sehr empfehlenswert, besonders für diejenigen, die Gerard Depardieu gerne auf der großen Leinwand anschauen möchten. Nach dem Anschauen des Filmes bleibt ein gutes Gefühl, dass wenn man nur offen ist, kann man eigenes Leben jederzeit positiv verändern.